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Sharon Kam - Unsere Artist in Residence 2024/25

Sharon Kam ist in der Tonhalle eine gute Bekannte: Seit 2010 ist sie bei uns in nicht weniger als sechs verschiedenen Konzertreihen aufgetreten. Als Artist in Residence 2024/25 wird die deutsch-israelische Klarinettistin ihre unglaubliche Vielseitigkeit nun in einer einzigen Saison zeigen. Für unser Saisonmagazin OTON hat Uwe Sommer-Sorgente ein Interview mit der Ausnahmemusikerin geführt.

Wenn ich Comiczeichner wäre und ein Porträt von dir machen müsste, würde ich dem Bild ein paar charakteristische Züge verpassen: breite Schultern für ein starkes Ego, einen sportlichen Körper für viel Energie, viele Antennen auf dem Kopf für ein offenes Wesen und hohe Intelligenz, und einen Mund mit mehreren Zungen für eine enorme Sprachfähigkeit. 

SHARON KAM: Muskelmasse baue ich wirklich auf. Ich muss auch starke Muskeln haben für meinen Beruf, den ich ja immer wieder neu erfinden muss! Es gibt keine Vorbilder, keine vorgespurten Wege für Klarinettensolisten. Das liegt vor allem an der Klarinette mit ihrem kleinen Repertoire. Eigentlich gibt es nur zwei Instrumente – Klavier und Geige –, bei denen es unendlich viele Möglichkeiten gibt. Uns Klarinettisten braucht man gar nicht unbedingt, zur Not holt man halt einen Klarinettisten aus dem Orchester. Wir müssen uns immer wieder beweisen, dass wir als Solisten dahin gehören. 

Wusstest du das, als du den Weg eingeschlagen hast? 

SK: Ich hatte eigentlich keine Vorbilder. Sabine Meyer ist zu nah an meinem Alter. Karl Leister war eigentlich Orchestermusiker. Benny Goodman hatte den Jazz. Es gab Charles Neidich und David Shifrin. Meine Vorbilder waren Solisten aus anderen Fächern – Violine, Cello, Klavier, Gesang. Ich wollte auch immer irgendwann mal unterrichten, um das Wissen weiterzugeben und als Solistin ein Vorbild für die junge Generation zu sein.

Du hättest doch auch ins Orchester gehen können … 

SK: Das wollte ich nicht. Mir war klar, dass ich durch mein Wissen und meine Persönlichkeit da nicht reinpasse und als Mensch und Musikerin nicht glücklich werde. Ich lasse mir nicht gerne sagen, was ich machen muss, weder von meinen Mitspielern noch vom Dirigenten. 

Dabei ist dir das Orchester seit Kindertagen vertraut, deine Mutter war stellvertretende Solo-Bratschistin im Israel Philharmonic Orchestra … 

SK: Meine Mutter war genau das Gegenteil von mir, sie wollte nie ganz vorne sitzen. Zu meinem zwölften Geburtstag habe ich als Geschenk bekommen, mit dem Israel Philharmonic auf Tournee zu fahren. Nach Japan. Das erste Mal. Auf dieser Tournee habe ich mitbekommen, wie ein Orchesterleben wirklich aussieht, ich kannte das ja nur von Erzählungen zu Hause. Die ganzen Beziehungen im Orchester, das komplett durchgetaktete Leben, der Vollservice, wenig frei gestaltbare Zeit, alles nach Plan und Liste, von der Reise bis zum Konzertprogramm ... Ich möchte selbst entscheiden, was ich spiele und was ich zum Frühstück esse … 

Und dann sagt dir auch noch ein Dirigent, wie du was spielen sollst … 

SK: Genau. Ich mag keine Hierarchien, als Mensch nicht, und schon gar nicht als Musikerin. Solange man studiert, ist das okay, aber im Berufsleben möchte ich doch selbst entscheiden.

Klarinettistin Sharon Kam

          Sharon Kam beim Konzert mit den Düsseldorfer Symphonikern 2022 in der Tonhalle (c) Susanne Diesner

Die Ironie der Geschichte: Du hast einen Dirigenten geheiratet … 

SK: Ja, denn da hört mein unbedingtes Wollen auf. Ich finde es toll, wenn einer mir die Partitur darstellt und dann doch auf Augenhöhe mit mir musiziert. Natürlich gibt es altersbedingte Hierarchien: Ich hätte zum Beispiel Kurt Masur niemals gewagt zu sagen, wie er zu dirigieren hat. Bei so einer Ikone nimmt man alles, was sie tut, erst mal als die Wahrheit. Dann kann man in kleinem Maße auch diskutieren, und dabei lernt man wieder etwas. Das muss sein, sonst hören wir ja irgendwann auf zu lernen. 

Spiegelt sich das auch in eurem Privatleben? 

SK: Natürlich. Nun müssen wir uns in unseren Berufen beide immer durchsetzen mit dem, was wir wissen und wollen. Damit muss man sich dann auch zu Hause immer wieder auseinandersetzen, aber wir sind schon seit 30 Jahren dabei und schaffen das ganz gut … 

Wie gehst du damit um, wenn du von außen gebeten wirst, etwas zu tun – etwa von einem Konzertveranstalter oder von einer Agentur? Gehört das zu deinem täglichen Kampf, auch hier dein Ego durchzusetzen? 

SK: Wenn ein Programm nicht zu mir passt, nehme ich das Konzert einfach nicht an. Auf diese Weise habe ich in meinem Leben schon viel Geld nicht verdient … Zum Beispiel mit dem Konzert von Carl Nielsen, das ich einfach nicht mag. Es gab eine Zeit, in der nordische Stücke neu entdeckt wurden und dann auf einmal sehr gefragt waren. Zugleich waren einige Kolleginnen und Kollegen auch noch dauerhaft krank, und so wurde ich oft dafür angefragt. Ich könnte das natürlich spielen, möchte es aber nicht. Wenn ich von einem Stück nicht begeistert bin, ist das auch nicht ehrlich dem Publikum gegenüber. Wenn ich schon als Solistin vor dem Orchester stehen darf, muss es so gut werden, dass man wieder eingeladen wird. Das kann ich nicht mit einem Stück, von dem ich nicht begeistert bin. Schwierig sind für mich auch Stücke, die von Klezmer angehaucht sind, dafür werde ich natürlich dauernd angefragt. Das mag ich nicht und will ich nicht machen! Alles, was mit Jazz oder ethnischer Musik zu tun hat, ist für mich interessant, die Klezmer-Richtung nicht. 

Du suchst dir also vor allem Stücke, die du machen willst. Wie gehst du mit den Angeboten um, die dir deine Agentur weiterleitet? 

SK: Man muss eines ganz klar festhalten: Die Agentur arbeitet für mich, nicht umgekehrt. Der Idealfall ist natürlich ein Geben und Nehmen: Ich brauche eine Agentur, die mir Ideen gibt und mich animiert, besser zu werden. Mich aufweckt. Es muss eine vertrauensvolle Zusammenarbeit sein. Ich entscheide sehr viel, und grundsätzlich hat die Agentur Vertrauen in meine Entscheidungen. Dabei bin ich nicht der Typ, der in Bibliotheken stöbert und Raritäten sucht. Mir fallen aber immer wieder Sachen in die Hände, von denen ich denke: Warum wird das nie gespielt? Aber das Ausgraben von Unbekanntem ist nicht mein Hauptfokus. Der Kern meines Könnens ist es, eine Phrase – aus welchem Stück auch immer – auf besondere Weise zu spielen und damit Emotionen zu erwecken. Und dadurch dazu beizutragen, dass sich die Klarinette zumindest ein bisschen in die Richtung von Klavier und Geige mit ihren riesigen Interpretationsgeschichten entwickelt. Natürlich muss ich mich auch von verschiedenen Seiten zeigen, und das ist bei unserem kleinen Repertoire nicht immer ganz einfach. Aber das Wichtigste sind die Gefühle, nicht das Repertoire.

Klarinettistin Sharon Kam

          Sharon Kam (c) Maike Helbig

Nun bist du in der Kammermusik mit den Mozart- und Brahms-Quintetten ja auch exquisit versorgt, die Stücke trägst du über Jahre sicher gerne mit dir. 

SK: Klar, die beiden Stücke wollen die meisten Kammermusikreihen im Programm haben. Da muss man aber auch seine Regeln setzen: Ich spiele das nicht jedes Jahr mit einem anderen Streichquartett. Ich möchte für diese Musik gerne auch mal über eine längere Zeit die gleichen Partner haben, sodass man eine Entwicklung innerhalb des Fünfer-Daseins erleben kann. Aber natürlich ist es auch gut, sich von Zeit zu Zeit neue Partner zu suchen, um neue Impulse hereinzubringen. Es ist eine feine Gratwanderung, den Umgang mit einem Werk über 30 Jahre zu gestalten und dabei immer bei sich zu bleiben. 

Bei uns machst du viel: sieben Konzerte in fünf verschiedenen Formaten. Schon das erste ist sehr speziell: Du spielst zusammen mit deinem vier Jahre jüngeren Bruder Ori das Bruch-Doppelkonzert für Klarinette und Bratsche. Ist Ori auch so ein Typ wie du? 

SK: Man sagt, ja … Ich habe ihn als Kind als den absoluten Ruhepol zu Hause erlebt, der am liebsten gar nichts sagt und seinen Unsinn in seinem Zimmer macht, ohne dass es einer mitkriegt. Ich habe mich bei allem immer durchgesetzt, und er wollte noch nicht einmal versuchen, gegen mich anzukommen. Dann ist seine Schwester ausgezogen und er konnte endlich der sein, der er eigentlich ist. Nämlich auch eine sehr dickköpfige Person und sehr warmherzig. Ein wissenschaftlicher Typ, der den Dingen gerne auf den Grund geht. Ori ist ein Multitalent mit einem riesigen Gehirn: Er hätte alles werden können. Aber die Bratsche ist dann doch das geworden, was ihn vollkommen glücklich macht. Alles andere könne kommen und gehen, sagt er, die Bratsche aber sei bis heute eine unendliche Herausforderung. Das trifft ja auch auf Musik im Allgemeinen zu: Du denkst, du hast es, dann ist es zwei Jahre später auf einmal eine ganz andere Sache. Ori ist, wie ich, auch sehr lebendig und laut. Musikalisch sind wir fast eine Symbiose. Wir hatten zeitweise den gleichen Musiklehrer, und seine Art, Phrasen zu gestalten, ist absolut die gleiche. Wobei wir erst als Erwachsene zusammen musiziert haben. Das Verhältnis kleiner Bruder / große Schwester kennen wir beim Musizieren überhaupt nicht. 

Mit Orchester zusammen zu musizieren, kommt bei euch nicht häufig vor, denn das Bruch-Konzert ist, glaube ich, das einzige Werk in dieser Besetzung. Spielt ihr in der Kammermusik regelmäßig zusammen?

SK: Ja, im Trio und im Quintett mit seinem Jerusalem Quartet. Mit ihm und Matan Porat habe ich eine CD mit Mozart, Brahms, Schumann und Bartók aufgenommen. Darauf sind auch Bearbeitungen von Brahms-Liedern, die jetzt tatsächlich öfter gespielt werden. Da haben wir es irgendwie geschafft, dass hingeguckt wird. 

Wie ist das Bruch-Konzert für dich? Von außen ist es ein wunderschönes, sehr homogenes Klangstück, das eher wenig Konflikte in sich trägt. 

SK: Es ist meisterhaft komponiert, dankbar für mich, und auch für die Bratsche ist es nicht schwer, klanglich voranzukommen. Und es sind tolle Melodien drin, darunter ein wunderbares schwedisches Volkslied aus Värmland. Das Stück ist wie eine warme Badewanne, das Publikum wird es lieben. 

Und es gibt in dem »Sternzeichen« ein Wiedersehen mit Alexandre Bloch, mit dem du 2022 bei uns das Crusell-Konzert und Lutosławski gemacht hast … 

SK: Ja, das ist sehr schön. Wir haben im Dezember zusammen mit dem Israel Philharmonic einige Konzerte in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem gespielt. Es war ungeplant die Saisoneröffnung nach dem Schwarzen Samstag am 7. Oktober. Wegen der Sicherheitsvorkehrungen waren nur 1.000 statt 2.500 Leute im Saal zugelassen. Die Konzerte waren für uns beide sehr emotional.

Wie geht es deiner Familie? 

SK: Es geht niemandem gut in Israel. Körperlich ist alles okay, sie sind nicht direkt bedroht, obwohl es auch immer wieder Alarm gibt und sie in den Luftschutzbunker müssen. Das Musikleben war zwei Monate lahmgelegt und wachte nur langsam wieder auf. Viele Orchester schicken kleine Ensembles in die Hotels, wo umgesiedelte Leute ausharren, viele Kibbuzim haben Menschen aus anderen Kibbuzim aufgenommen. Der Schulbetrieb ist zum Glück wieder weitgehend normal.

Sharon Kam und Markus Becker

          Sharon Kam 2013 in der Tonhalle in einem Kammermusikkonzert mit Pianist Markus Becker (c) Susanne Diesner

In unserer Reihe »Comedy geht ins Konzert« spielst du dann das Mozart-Konzert und eine Sinfonietta von Penderecki … 

SK: Mit dem Penderecki-Stück habe ich eine ganz besondere Geschichte. Ich wusste einiges über ihn, weil seine Musik mal ein Thema in der Schule war. Es ging um den Zweiten Weltkrieg, und da haben wir Schönbergs »Ein Überlebender aus Warschau« mit Pendereckis »Threnody to the victims of Hiroshima« verglichen. Als ich ihn dann persönlich erlebt habe, konnte ich das kaum begreifen: Für mich war Penderecki eine lexikalische Person, die ich aus Büchern und eben dem Schulunterricht kannte, er war als Person unerreichbar. Das Schleswig-Holstein Musik Festival hat mich damals nach dem ARD-Wettbewerb geholt, und da habe ich zusammen mit Boris Pergamenschikow, Christoph Poppen und Kim Kashkashian das Quartett, aus dem später die Sinfonietta entstanden ist, uraufgeführt. Davor hatte ich nur von eher unbekannten Komponisten neue Stücke gespielt. Das hier war jetzt ganz etwas anderes: Penderecki war weltberühmt, in den USA wahrscheinlich sogar der bekannteste europäische Komponist überhaupt. Und da sitze ich auf einmal mit meinen 22 Jahren und spiele mit diesen berühmten Ikonen sein neues Stück. Ich hatte solche Angst! Penderecki hat uns zugehört und – nichts gesagt! Später hab ich ihn dann nach seiner Meinung über unser Spiel gefragt, da sagte er: »Sharon, warum soll ich dir sagen, wie du meine Musik spielst? Was hast du dann davon? Ich möchte von dir hören, wie du meine Musik interpretierst. Und wenn du nicht ganz falsche Tempi nimmst und wenn du dein Eigenes dazutust, dann bin ich glücklich!« Und er war glücklich, und wir haben eine lange Zusammenarbeit über die Jahre gehabt. So etwas ist das größte Kompliment, das man kriegen kann. Da hört ein Komponist von solch einer Größe einfach mal das Spiel einer 22-jährigen Anfängerin und ist glücklich! 

Der kritische Austausch mit Komponisten vor der Uraufführung kann aber auch sehr schön und konstruktiv sein … 

SK: Klar, das habe ich auch oft erlebt. Aber hier war das nicht unbedingt nötig, an diesem unglaublichen Stück konnte man nicht viel kaputt machen. Es war auch eine tolle Aufführung mit diesen Musikern, wir haben einfach unsere Seele ausgeschüttet, das kann ja gar nicht falsch sein … 

Dazu kommt dann der Mozart. Gibt es in seinem Klarinettenkonzert für dich auch immer noch etwas zu entdecken? 

SK: Immer. Ich unterrichte das auch sehr viel, und dabei muss man ja auch alles immer wieder ergründen. Wenn mich bei einer Interpretation etwas stört, muss ich wissen, warum. 

Du hast es zweimal aufgenommen. Wie geht es dir, wenn du die frühe Aufnahme jetzt hörst? 

SK: Das war die 2003 entstandene Aufnahme mit dem Württembergischen Kammerorchester, mit dem ich jetzt auch bei euch spiele! Die Aufnahme ist eine schöne Erinnerung an eine Zeit, in der ich das eben genau so spielen wollte. Jahre später habe ich dann die Bassettklarinette entdeckt, und da musste ich ganz neu an das Konzert ran, weil man mit dem Instrument einfach bestimmte Dinge besser machen kann, andere aber nicht. Es war auch schon eine andere Zeit, man hatte ein anderes Wissen. Da hab ich mir ein anderes Orchester ausgesucht, worauf mein Sohn sofort sagte: »Aber ich mag die alte Aufnahme viel lieber.« Klar, er war ja mit ihr aufgewachsen, es war Mamas Stimme, die er da hörte. Später hab ich ihm dann an einigen Stellen die verschiedenen Interpretationen erklärt, da sagte er: »Ja, das verstehe ich alles, aber ich mag trotzdem die alte lieber.« Ich kann das nachfühlen. Die normale Klarinette klingt ausgeglichener, leichter gesungen, natürlicher. Aber ich habe auch diese Liebe zu diesen komischen tiefen »Honkhonk «-Stellen, die man nur auf der Bassettklarinette spielen kann, und das Wissen, dass Mozart sich auch wegen des Bassetthorns überhaupt in die Klarinette verliebt hat, in diesen nichtperfekten, sehr menschlichen, zerbrechlichen Klang, der auf der modernen Klarinette gar nicht mehr zu finden ist. Vielleicht hatte Mozart diesen Klang auch im Sinn, als er das Konzert schrieb, deswegen passt es vielleicht besser auf der Bassettklarinette.

Ich möchte noch einmal auf deine Formulierung »leichter gesungen« zurückkommen. Was heißt das, die Klarinette zu »singen«? 

SK: Mit Singen meine ich das natürliche Musizieren. Ich kann aber auch, wenn ich die Klarinette spiele, ganz bewusst Entscheidungen treffen, die vielleicht gegen das Natürliche sind. Auch um zu zeigen, dass ich die ganzen Facetten des Instruments beherrsche. Wenn es »nur« gesungen sein soll, kann das eine Stimme natürlich besser als eine Klarinette.

Sharon Kam

          Nach dem Konzert im Gespräch mit dem Publikum (c) Susanne Diesner

Für dich scheint das Singen auf der Klarinette so was wie der Normalzustand zu sein, das ist vielleicht nicht allen klar … 

SK: Ja, mein musikalisches Ziel ist es, mit meiner Klarinette schön zu singen, aber natürlich hat die Klarinette einen ganz anderen Tonumfang als eine Stimme, und der ist bei Mozart auch gefragt. 

Ist das Singen auf dem Instrument klarinettenspezifisch oder würdest du das genauso formulieren, wenn du ein anderes Instrument spielen würdest? 

SK: Ja, würde ich. Tolle Pianisten zum Beispiel können auf dem Klavier auch fantastisch singen. 

Wie ist es mit dem Sprechen? Du sprichst selbst drei Sprachen fließend – Hebräisch, Englisch und Deutsch. Haben die Sprechmelodie und die Artikulation, also das, was du mit dem Mund und der Zunge machst, einen Einfluss auf dein Spiel? 

SK: Zwei Beispiele: Wenn man Chaplin in »Der große Diktator« sieht, denkt man, er kann Deutsch. Es ist einfach sehr gut gespielt. Oder in der Oper: Bei sehr guten Sängern denkt man auch, dass ihr Italienisch oder ihr Deutsch perfekt ist. Erst wenn sie in der jeweiligen Sprache sprechen, hört man manchmal einen starken Akzent. Man kann also eine Sprache perfekt artikulieren, obwohl man sie nicht spricht. Andererseits ist Sprache auch Kultur, und ich glaube, dass ich deutsche Sachen anders spiele, seit ich hier bin. Mit der Kenntnis der Kultur bekommt man ein gewisses Verständnis für die Musik aus der jeweiligen Kultur. Das heißt nicht, dass sehr gute Musiker das nicht auch sehr gut erahnen und erspüren können, obwohl sie nicht in der Kultur leben. Ich wusste natürlich schon einiges über Brahms, bevor ich nach Deutschland kam, aber mein Zuhause-Gefühl beim Spielen seiner Musik hat sich hier sehr gefestigt. 

Profitierst du für dein Musizieren davon, dass du in den USA, in Europa und in Israel längere Zeit gelebt und so viele Kulturen kennengelernt hast und so verschiedene Sprechweisen verinnerlichen konntest? 

SK: Auf jeden Fall. Vielleicht kann ich es so sagen: Ich hatte und habe dadurch die Gelegenheit, aus der Kenntnis der verschiedenen Sprachen und Kulturen sozusagen meine eigene, persönliche musikalische Kultur zu machen. Das hilft mir, für Musik aus unterschiedlichsten Ländern und Sprachräumen eine stimmige Ausdrucksweise zu finden. Übrigens habe ich auch zum Französischen, das für die Klarinette sehr wichtig ist, eine gute Beziehung, obwohl ich nie in Frankreich gelebt habe. Die Entwicklung des Instruments hat sehr viel mit Frankreich zu tun, schließlich gibt es ja auch das französische und das deutsche System.

Passenderweise hat das dritte Programm, das du bei uns spielst, einen französischen Schwerpunkt. Kammermusik von Debussy, Beethoven und Messiaen. Debussys Rhapsodie ist bestimmt auch eines deiner Herzensstücke … 

SK: Definitiv, ich spiele es gerne am Anfang eines Konzerts, es fängt wirklich aus dem nichts an, wie ein Sonnenaufgang, und endet wie eine Party. Es ist unglaublich frei, was mit dem Pianisten Enrico Pace fantastisch funktioniert. Nach der Pause dann das Messiaen-Quartett – ein fast religiöses Erlebnis, auch für nichtreligiöse Menschen. Etwas Mystisches, das Klang und Seele auf eine besondere Weise verbindet, und so etwas brauchen wir in dieser Zeit. 

Bist du ein religiöser Mensch? 

SK: Nein, ich bin jüdisch, aber ich glaube nicht, dass ich mich mit Gott unterhalte. Ich bin mir aber sicher, dass die Welt nicht nur aus dem besteht, was wir sehen und fassen können. Es gibt extrem viele Schichten, die wir gar nicht bewusst erleben. Etwas Größeres. Egal wie man es benennt. 

Du spielst das Quartett zusammen mit Enrico Pace, der Geigerin Liza Ferschtman und dem Cellisten Christian Poltéra … 

SK: … das sind drei unglaubliche Musiker. Über Enrico habe ich eben schon gesprochen, und Christian und Liza liebe ich sehr. Die stehen alle so sehr hinter dem, was sie tun! Das macht für mich Künstler einzigartig. Schön spielen können viele. Aber bei solchen besonderen Künstlern habe ich im Konzert die Möglichkeit, sie wirklich näher kennenzulernen. Es gibt nicht so viele auf der Welt, bei denen ich mir sicher bin: Alles, was sie anbieten, wird toll sein. Auch beim Unterrichten stellt sich meist sehr früh heraus, wer eine Persona hat und wer nicht. Und dieses Empfinden hält sich dann auch. Für die Residence in Düsseldorf wollte ich unbedingt eines der für mich tollsten Projekte der letzten Jahre mitbringen, und dazu gehört das Messiaen- Quartett. Ich bin mit dem Stück auf sehr emotionale Weise verbunden. Es ist untrennbar mit dem viel zu frühen Tod zweier mir sehr wichtiger Kollegen verbunden, mit denen ich es gespielt habe. Das war zuerst Boris Pergamenschikow. Nach seinem Tod 2004 haben Gustav Rivinius, Antje Weithaas, Lars Vogt und ich das Stück in Braunschweig gespielt – ohne ihn. Lars wollte eine Ansage machen und schaffte es nicht, mit seiner Stimme durchzukommen, und ich musste im fünften Satz, der nur für Cello und Klavier ist, die Bühne verlassen, es ging einfach nicht mehr. Und Antje war hinter mir im gleichen Zustand. Wir haben dann weitergespielt, aber es war schrecklich. Und jetzt haben wir vor Kurzem das Quartett wieder gespielt, und Lars Vogt war nicht mehr da … Ich hab mit dem Stück extrem Schönes und extrem Trauriges erlebt.

Sharon Kam und Dramaturg Uwe Sommer-Sorgente

          Sharon Kam und Dramaturg Uwe Sommer-Sorgente (c) Susanne Diesner

Da zeigt sich wieder, was für ein unglaublich starker Erinnerungsträger die Musik ist. 

SK: Ja, sie erreicht Schichten in uns, die uns gar nicht bewusst sind. In diesem Stück ganz besonders. Ich kenne auch viele Nicht-Musiker, die nicht aufhören konnten zu heulen, als sie es gehört haben. Auch wenn sie gar keinen Menschenverlust zu betrauern hatten.

… was im Brahms-Quintett, das du im Juni mit dem Jerusalem Quartet spielst, auch passieren kann … 

SK: Da sind Sachen drin, die man von Brahms so nicht kennt. Noch intensiver als sonst. Das Stück hat alles – Schmerz, zarte Sonnenstrahlen, Sturm, Trauer, Liebe. Ein unglaubliches Stück. 

Das letzte Programm machst du zusammen mit deinem Mann Gregor als Dirigent. Es wird den Schwerpunkt Amerika haben, da wird die Klarinette noch einmal von einer ganz anderen Seite gezeigt. 

SK: Ja, besonders »Derivations« von Morton Gould macht so viel Spaß zu spielen! Es ist ein »Wow«-Stück für alle, auch für das Orchester, das hier eine Jazzband ist, und es wird fast nie gespielt. 

Zum Schluss würde ich gerne noch deine Meinung wissen zu einem für Laien nicht sofort verständlichen Aspekt, der so oft zur Sprache kommt, wenn es um die Klarinette geht: die Frage nach dem französischen und dem deutschen System. Du selbst bezeichnest deine Klarinette als ein Billiginstrument. Du interessierst dich nicht besonders für die neuesten Entwicklungen und spielst immer noch das gleiche Instrument wie vor 30 Jahren, nur dass du dir das gleiche Modell hin und wieder neu kaufst. 

SK: Genau, es ist eines der billigsten professionellen Instrumente, die es gibt: Es kostet etwa 3.000 Euro. Es ist eine Klarinette im französischen System, gebaut vom französischen Hersteller Buffet Crampon, einem der ältesten Klarinettenbauer überhaupt. Die Bauart hat sich seit 1870 eigentlich nicht besonders geändert. Ich spiele aber ein amerikanisch angehauchtes Modell, das eher dem dunkleren deutschen Klangideal nachempfunden ist. Die amerikanischen Klarinettisten haben schon immer etwas mehr Dunkelheit im Klang gesucht, während die Franzosen das Helle und Leichtere bevorzugen. Ich bin sehr glücklich mit meinem Instrument. Es ist sehr flexibel, ich kann damit machen, was ich will, und das ist das Wichtigste. Als ich mal ein Jahr lang auf einem Instrument von Peter Eaton gespielt habe, einer wunderbaren Satzklarinette, die sehr schön singt, da sagten meine Kolleginnen und Kollegen irgendwann: »Sharon, du klingst wie alle anderen. Deine freche Art kommt hier nicht durch.« Ich denke, ich brauche das etwas Rauere, um spielen zu können, wie ich einfach bin. Ich klinge nicht immer wunderschön. Wenn mir jemand sagt, mein Klang sei so schön, ist das fast eine Beleidigung für mich. Ich möchte vielfältig klingen. 

Warum spielen in Deutschland fast alle Musikerinnen und Musiker in den Orchestern Klarinetten im deutschen System? Das ist ja fast wie eine Enklave. Denn das französische System scheint weltweit immer mehr auf dem Vormarsch zu sein. 

SK: Ich finde es schön, dass es diese Unterschiede gibt! Das trägt zur Vielfalt bei. Es gibt da viele Aspekte: Die französischen Klarinetten sind nicht so teuer wie die deutschen, und sie sind in mancher Hinsicht leichter zu spielen. In Deutschland ist es aber auch ein Marktschutz und der Schutz einer Tradition. Das ist toll! In Frankreich zum Beispiel ist die Tradition des Bassons verloren gegangen, alle spielen Strawinskys »Sacre« jetzt auf einem normalen Fagott. Früher konnte man französische Orchester an ihren Bassons oder die Wiener Philharmoniker an ihren speziellen Wiener Oboen erkennen. Es ist sehr wichtig, diese Traditionen zu bewahren, sonst sind sie irgendwann weg. 

Herzlichen Dank für das Gespräch! ◼

Die Konzerte mit Sharon Kam:

Die Residence von Sharon Kam wird gefördert durch den Freundeskreis der Tonhalle Düsseldorf.