Frau Faust, Musik kann in vieler Hinsicht heilende Kraft entfalten. Womöglich kann sie Menschen auch in bestimmten Situationen retten. Haben Sie Erfahrungen mit dem Rettungspotenzial von Musik?
ISABELLE FAUST Ich habe tatsächlich eine Erfahrung hinter mir, die mir die Musik noch einmal in einer ganz anderen Kraft gezeigt hat. Dabei ging es um jemanden, der im Sterben lag und dem die Musik geholfen hat, sich zu lösen. Obwohl ich mein ganzes Leben mit Musik verbringe, war mir bis dahin noch nicht so klar, wie sehr Musik in Sphären dringen kann, wo man mit Worten nicht mehr weiterkommt. Sie kann wirklich metaphysische Kräfte entfalten, ein für mich unerklärlicher Vorgang. Mir wurde auch bewusst, dass Musik hier eine andere Dimension mitbringt als die anderen Künste. Was da passiert ist, kann ich mir mit den anderen Kunstformen in dieser Intensität nicht vorstellen. Das ist die Rettung, die ich in Zusammenhang mit Musik erlebt habe.
Welche Musik war es?
Das war Bach. Ich würde das aber prinzipiell jeder Musik zutrauen – auch wenn ich mir persönlich in dieser Situation auch Bach wünschen würde.
Wenn Sie selbst rettungsbedürftig wären: An wen oder was würden Sie sich wenden?
Garantiert wären das zuerst alle die, die ich liebe. Meine Familie und engsten Freunde. Das ist der erste Zugang zur seelischen Rettung und der erste Anker, dem ich mich zuwenden würde. Natürlich kommt es darauf an, in welcher Form man Rettung sucht. Mit dem Wort Rettung verbinde ich heute aber weniger etwas Persönliches als vielmehr unseren ganzen Planeten. Oder genauer: die Menschheit, die extrem rettungsbedürftig ist. Unser Lebensfeld – und das all derer, die noch kommen werden – so zu erhalten, dass alle eine Art von Lebensform haben können, ist die allergrößte Aufgabe. Es muss sich auf dem ganzen Planeten radikal was ändern. Ich bin da im Moment nicht sehr optimistisch, denn in dem Tempo, in dem wir die Sache angehen, wird es schwierig. Es sind überall so viele Bremsen drin, und vor allem müssen wir Hand in Hand handeln. Die Musik kann dabei nicht mehr tun, als den Menschen Kraft zu geben.
Schauen wir trotzdem mal auf unseren Lebensraum, auf unser eigenes Tun. Wir wirkt sich Ihr Bewusstsein, dass die Menschheit so gefährdet ist, auf Ihr Leben aus?
Ich gebe nicht auf, ich versuche zu tun, was ich kann. Ich lebe zum Beispiel komplett vegan und versuche auf diese Weise, dem Planeten, den Tieren und mir selbst etwas Gutes zu tun. Es ist gar kein so großer Schritt. Das könnten noch sehr viele Menschen, ohne auf Komfort verzichten zu müssen. Es ist neben vielen anderen Kleinigkeiten des Alltags der größte Schritt, den ich persönlich gehen kann. Aber er ist natürlich kein Allheilmittel.
Wie gehen Sie zum Beispiel mit den Flugreisen um, die in Ihrer Branche dazugehören? Werden die Touren mittlerweile ökonomischer gestaltet? Ist es möglich, »nein« zu sagen zu einem Flug nach Sydney, um dort ein einziges Konzert zu spielen?
Ich merke, dass sich da zumindest ein bisschen was tut. Man nimmt öfter auch mal zwei Stunden mehr in Kauf und setzt sich in den Zug statt ins Flugzeug. Ich fahre – vor allem innerhalb Deutschlands, aber auch Richtung Prag oder Dänemark – mittler weile deutlich mehr mit der Bahn. Und wir versuchen – auch wegen der durch Corona verursachten Kompliziertheit des Reisens – zu vermeiden, dass man für ein Konzert hierhin und dann für ein anderes dorthin hüpft. Auf der anderen Seite muss ich auch gestehen: Der Corona-Lockdown war ja für uns Freiberufler so dramatisch, dass man es sich im Augenblick kaum leisten kann, Konzerte nicht zu spielen. Oft sind es auch verschobene Konzerte, die man dem Veranstalter auch bieten möchte. Das spielt dann auch in den Kalender mit rein, der tatsächlich nicht unbedingt geographisch logisch ist. Und grundsätzlich ist es natürlich so, dass ich eine internationale solistische Karriere ohne Flugreisen gar nicht hinkriegen kann. Im Urlaub allerdings muss ich dann nicht nach Hawaii fliegen, dann geht’s in die Alpen zum Wandern. Privat bin ich mit Flugreisen sehr zurückhaltend.
Apropos Flugreisen und Rettung: Ich habe von einem Erlebnis mit einem sehr freundlichen Flugkapitän gehört, der Sie einmal aus einer schwierigen Situation gerettet hat …
Oh ja, das war in Dubrovnik. Da war ich 16. Ich war mit einem Jugendorchester aus Stuttgart auf der Insel Lopud in Kroatien. Es war eine Orchesterfreizeit mit anschließendem Konzert in Dubrovnik, Prokofjews 1. Violinkonzert stand auf dem Programm. Mitten in den Proben bekam ich einen Anruf von einem Agenten, ob ich nicht Mozarts »Sinfonia concertante« mit Gérard Caussé in Südfrankreich spielen könne. Das war für mich natürlich ein »Wow«, und zum Glück haben mich die Stuttgarter sofort aus der Freizeit rausgelassen. Ich musste also Hals über Kopf von der Insel mit dem Boot zum Flughafen, und als ich dort ankam, merkte ich, dass ich meinen Pass bei der Rezeption im Hotel vergessen hatte. Manche verlangen ja, den Pass dort abzugeben, und wenn ich das jetzt machen muss, denke ich immer an diese Geschichte und sage: »Aber Sie sind verantwortlich, dass ich meinen Pass zurückbekomme!« Jedenfalls habe ich dann im Hotel angerufen, und es kam auch jemand mit dem Pass – aber mein gebuchter Flug war schon weg, und im nächsten Flieger gab es keinen Platz mehr! Es kam eine Enttäuschung nach der anderen, ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Da saß ich also weinend wie ein Häufchen Elend mit meiner Geige im Arm in einer Ecke auf dem Koffer, und da kam der Kapitän dieses Flugzeugs, in das ich eigentlich nicht mehr reinkam, mit seiner Crew vorbei und sah mich da sitzen und fragte – ich glaube sogar auf Deutsch –, was denn los sei. Ich habe ihm meine Situation erzählt, worauf er einfach sagte: »Na, komm mit, komm mit!« Er hat mich dann – das waren die guten alten Zeiten – in dem Gang zwischen Cockpit und Kabine, aber mehr im Cockpit, auf so einen Klappsitz gesetzt. Mit der Geige auf dem Schoß, und niemand kam mehr an mir vorbei. So bin ich noch rechtzeitig zu diesem Konzert gekommen. Wir hatten über Jahre noch immer wieder Kontakt, der Kapitän flog ja immer die Route Stuttgart-Dubrovnik und kam manchmal bei uns vorbei.
Vielleicht war das dann ja doch auch eine Rettung durch Musik. Wer weiß, ob das geklappt hätte, wenn Sie keine Geige auf dem Arm gehabt hätten …
Ja, und schön, dass diese Geschichte jetzt über Düsseldorf wieder lebendig wird …
Was haben Sie für eine Geschichte mit Düsseldorf und der Tonhalle?
Ich war einige Male in der Tonhalle zu Gast. Etwas Besonderes war der ganze Beethoven-Zyklus, den ich 2008 | 2009 mit Alexander Melnikov gespielt habe, das haben wir nur in wenigen Städten gemacht. Einige Jahre später kamen ein Mozart-Konzert und Ravels »Tzigane« mit den Symphonikern. Und ich erinnere mich natürlich sehr gerne an das Rezital mit Alexander im Juni 2020, das war das erste Konzert nach dem kompletten Lockdown. Dieses Konzert werde ich nie vergessen. Ich war komplett überwältigt von den Emotionen, die mich auf der Bühne überkamen. Das hat mich fast vom Hocker gerissen. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass es so einen starken Effekt hatte, wieder Leute im Saal zu sehen. Dabei war der Lockdown ja nur ungefähr zweieinhalb Monate lang, es gab ein paar Streams, dann ging es wieder los. Und es waren ja nur 50 oder 100 Leute, die da mit Maske saßen. Besonders war das Konzert auch dadurch, dass wir die Mozart-Sonaten mit einem historischen Klavier gespielt haben, was mir in der großen Tonhalle irgendwie zu klein vorkam. Ich dachte: Die Leute dürfen das erste Mal wieder ins Konzert, und wir machen hier nur plimplim ... Dann hatte ich aber das Gefühl, dass wir mit diesen filigranen, zarten Mozart-Sonaten die Leute vielleicht noch mehr gepackt haben. Die sind ja förmlich zu uns auf die Bühne gekrochen!
Lassen Sie uns auf die Konzerte schauen, die Sie bei uns spielen werden. Fünf Programme insgesamt: Zweimal in der Reihe »Ehring geht ins Konzert« mit Il Giardino Armonico und den Düsseldorfer Symphonikern, zwei Kammermusiken in Triobesetzungen und ein Symphoniekonzert. Das ist viel und vielfältig. Suchen Sie sich Ihre musikalischen Partnerinnen und Partner sehr bewusst aus?
Natürlich. Gott sei Dank habe ich hervorragende Kolleginnen und Kollegen, die inzwischen auch enge Freunde sind, mit denen ich mich in den Proben auch unverblümt verhalten kann. Wenn man sich noch nicht so gut kennt, kann es in Proben schon schwierig sein, wenn man alles wie mit Handschuhen anfassen muss. Wenn man aber gegenseitiges Grundvertrauen hat und offen sprechen kann, ist es nicht nur schöner, man kommt auch schneller viel weiter und kann viel mehr voneinander profitieren. Das heißt aber nicht, dass ich nicht auch gerne mit herausragenden Musikern spiele, die in der Zusammenarbeit eher komplizierte Persönlichkeiten sind.
Wenn es um das kompromisslose Musizieren geht, gehört der Mut zum Scheitern auch dazu …
Das stimmt. In der Kammermusik ist das besonders schwierig, denn die Arbeit geht hier sehr ins Intime, jeder gibt viel von seinem Inneren preis, und es kann sehr heikel sein, zu sagen: »Okay, war schön, aber es geht einfach nicht.«
Jetzt kommen Sie bei uns zweimal in der Kammermusik.
Da bin ich mit meinen absoluten Busen freunden unterwegs. Kristian [Bezuidenhout] und Alexander [Melnikov] sowieso, Teunis [van der Zwart] kenne ich auch schon lange, er ist ein sehr enger Freund von uns. Er hat das Schubert-Oktett mit mir aufgenommen, und er hat früher viel bei Frans Brüggen im Orchester des 18. Jahrhunderts gespielt, mit dem ich auch viel gemacht habe. Und wir haben das Brahms-Trio auch schon zusammen aufgenommen. Wenn’s um historisches Horn geht, ist er immer erste Wahl.
Sie spielen das Brahms-Ligeti-Programm auf historischen Instrumenten?
Ich weiß noch nicht, wie wir es in Düsseldorf machen. In Berlin haben wir bei dem Programm einmal in der Pause alle drei die Instrumente gewechselt. Das war schon hart, mal eben die Saiten zu wechseln. Und man braucht natürlich zwei Flügel auf der Bühne. Teunis wird aber auf jeden Fall auf ein historisches Horn wechseln.
Nach dem Brahms-Trio kommt im Juni noch das Brahms-Konzert. Sie sind bekannt dafür, mit Herz und Kopf sehr tief in die Werke und ihren Notentext einzutauchen. Wie gelingt es Ihnen, ein so bekanntes und von Ihnen sicher schon oft gespieltes Werk immer wieder neu zu entdecken?
Ich habe das Brahms-Konzert zwar gerade wieder aufgefrischt, davor aber eine Weile nicht gespielt. Ich glaube, es gab drei Jahre Pause. Gerade dieses Konzert wird meiner Ansicht nach sehr häufig missverstanden. Noch mehr ist das übrigens beim Doppelkonzert der Fall. Das funktioniert so gut wie nie auf der Bühne. Für mich ein fast illusorisches Stück. Es beinhaltet Schwierigkeiten, die mit einem modernen Orchester fast unlösbar sind, es sei denn, man hat einen ganz besonderen Dirigenten. Ich hab’s einmal gespielt und gedacht: Ah, das könnte der Weg sein. Das war mit Philippe Herreweghe. Er ist ja nicht so ein Dirigent, der alle Aufnahmen kennt und sich entsprechend vorbereitet, sondern der ganz unvorbelastet an die Musik geht. Bei Brahms’ Violinkonzert habe ich auch so ein Gefühl: Man müsste eigentlich alles vergessen, was schon da war. Das Stück braucht wirklich alles. Das große Symphonische ist da, die Kammermusik, und ein gewaltiger Solo-Part. Und es ist eine unglaublich große Form, allein der erste Satz ist ja fast wie eine ganze Symphonie. Das alles unter einen Hut zu bringen und dabei die feinsten Gesten nicht zu verlieren, ist unfassbar schwer. Die Musik hat die Größe der Alpen und zugleich eine große Zerbrechlichkeit, und natürlich große Virtuosität. Da muss man in jedem Takt aufpassen, was man tut. Eine riesige Herausforderung, und ich bin mit dem Stück noch lange nicht am Ende. In den nächsten Jahren möchte ich mich unbedingt mehr auf dieses Konzert fokussieren, am liebsten mit einem historischen Orchester. Da ist es doch ein wenig einfacher, an diese Wünsche heranzukommen.
Sie haben sich Olari Elts als Dirigent des Symphoniekonzerts gewünscht. Was verbindet Sie miteinander?
Ich habe Olari vor vielen Jahren kennengelernt. Wir haben uns dann ein bisschen aus den Augen verloren, uns in Mantua aber neulich wieder getroffen, was sehr konstruktiv und kooperativ war. Ich bin sicher, dass er ein sehr offenes Ohr für die Vorstellungen hat, die ich zu Brahms mitbringe.
In der Tonhalle waren zuletzt Frank Peter Zimmermann und Igor Levit als »Artist in residence« präsent – Künstler mit einem sehr unterschiedlichen Selbstverständnis bezüglich dessen, was sie mit Musik und über Musik hinaus kommunizieren. Stimmt mein Eindruck, dass Sie diesbezüglich irgendwo dazwischen einzuordnen sind? Musik ist für Sie unbedingt mehr als Musik, die Auftritte vor Publikum aber kein politischer Akt?
Solch ein Sendungsbewusstsein wie Igor habe ich nicht, das bin ich als Person einfach nicht. Ich bewundere ihn aber sehr für seinen Mut, sich einzumischen und die Dinge beim Namen zu nennen. Es wäre schön, wenn es in unseren Musiker kreisen mehr Leute gäbe, die solchen Mut aufbringen. Wir sind, nicht anders als Schauspieler oder Sportler, auch öffentliche Persönlichkeiten und müssen Rückgrat zeigen, obwohl wir keine Politik experten sind. Ich maße mir nicht an, in der Breite einen Bekanntheitsgrad wie Igor oder Lang Lang zu haben. Und ich bin vom Typ her jemand, der sich eigentlich nicht so gerne artikuliert. Ich vertraue sehr auf das Sprechen durch die Musik, auf das, was an guten Tagen aus meiner Geige kommt. Denn das ist das Beste, was ich zu bieten habe. Und dabei geht es mir auf jeden Fall um mehr als um den puren Genuss und darum, das Publikum mit dem zu beglücken, was es schon kennt und liebt. Das sieht man, glaube ich, schon an meinen Programmgestaltungen und an meiner Art, zu interpretieren. Ich möchte die Leute im schönsten Sinne aufschrecken und kreativ werden lassen.
Das Interview führte Uwe Sommer-Sorgente für das Tonhallen-Saisonmagazin OTON 2022/2023.