Kerosinfrei reisen

Von guten Geschichten – und wie man sie erzählt Von Sylvia Roth

Gebannter Blick, staunend geöffneter Mund: Wenn Kinder einer Geschichte lauschen, verharrt der Körper gerne mal in regungsloser Spannung. Doch nicht nur in Kindern brennt die Sehnsucht nach einer guten »Story«, auch in Erwachsenen. Schließlich bieten Erzählungen so vieles, was die menschliche Seele nährt: Unterhaltung, aber auch Sinn, Action, aber auch Trost. Geschichten liefern alternative Denkmodelle, schärfen unsere Wahrnehmung, schulen unsere Empathiefähigkeit. Sie bieten Identifikationspotenziale verschiedenster Art: Mal kann man mit dem Helden mitfiebern, mal mit dem Leidenden mitfühlen. Mal kann man einen Sieg feiern, dann wieder eine Metamorphose durchlaufen.

Karin Wedra kennt sich mit Geschichten und ihren Potenzialen aus. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Barbara Greiner-Burkert leitet sie in München »Die Sprechwerker«: Ein Institut, in dem man das Geschichtenerzählen lernen kann. Wedra hat Geschichten von klein auf geliebt und findet bis heute: »Eine gute Geschichte berührt. Wie Musik auch.« Wobei eine gute Geschichte natürlich auch gut erzählt sein muss: »Ich kann eine Handlung nur roboterhaft abspulen. Oder ich kann die Menschen wirklich emotional teilhaben lassen. Wenn ich erzähle, muss ich eine Verbindung zu den Zuhörern aufbauen und muss diese Verbindung auch halten. Nur dann kann ich die Leute mitnehmen auf meine Reise und sie über die Schulter schauen lassen bei dem, was ich alles sehe.«

 Gemeinsam unterwegs sein

Menschen auf eine Reise mitnehmen – mit Geschichten. Scheherazade ist Meisterin hierin. Für sie ist das Geschichtenerzählen eine Überlebensstrategie: Im Harem von Sultan Schahriar soll jede Frau nach der ersten Nacht getötet werden. Scheherazade aber rettet ihr Leben, indem sie den Sultan tausendundeine Nacht lang mit Geschichten fesselt. Dabei geht sie mit großer Klugheit vor und nutzt brillant die Kraft des Cliffhangers: Immer kurz vor dem Showdown bricht sie ihre Erzählung ab und vertröstet den Sultan für die Fortsetzung auf den nächsten Tag – Nacht um Nacht rettet sie so ihr Leben. Doch es ist eine hohe Kunst, Menschen so sehr zu fesseln, dass sie unbedingt wissen wollen, wie die Geschichte weitergeht – wie kann man Erzählen überhaupt lernen? »Der erste Schritt ist, die Geschichte zu begreifen«, berichtet Karin Wedra, »sich erstmal so einen großen Textbrocken überhaupt zu merken. Und zwar nicht wortgetreu auswendig gelernt, sondern eher wie in einem Kinofilm. Letztlich geht es darum, sich die Bilder zu merken.« Auf dieser Basis beginnt die Feinarbeit: »Man muss die Geschichte für sich selbst greifbar und erlebbar zu machen. Was verbinde ich mit den einzelnen Szenen? Was bedeuten die einzelnen Figuren für mich? Die Meta-Ebene ist das eine: Ein König ist ein König. Der regiert das Reich. Punkt. Aber die Frage ist: Wie ist der König denn für mich? Wie erlebe ich ihn? Deshalb sagen wir den Leuten: Geh da mal richtig in die Figur rein!«

In Figuren richtig reingehen – das tut auch der Komponist Nikolai Rimski-Korsakow in seiner 1888 entstandenen Vertonung des Scheherazade-Stoffes. Sowohl Scheherazade als auch der Sultan werden durch ein eigenes Leitmotiv repräsentiert: Das Thema des Sultans klingt herrisch, ist durch markante Rhythmik und aggressive Gestik dominiert. Scheherazade hingegen besitzt eine zarte, verführerische, ornamentale Melodie, die gewissermaßen in sich kreist wie eine Girlande – so, wie Scheherazades Geschichte nicht enden darf, darf auch ihr Motiv nicht aufhören. Wie zwei Gegenspieler lässt Rimski-Korsakow diese beiden Motive gleich zu Beginn seiner Suite aufeinanderprallen: Scheherazades Thema wird empfindsam und fragil von der Solovioline gespielt, das Thema des Sultans hingegen stellt sich bedrohlich und martialisch mit vollem Orchester vor, inklusive tiefsten Blechbläsern. Doch im Lauf des Werkes ändert sich das Sultan-Thema mehrfach, erklingt auch mal sanft kantabel oder in pulsierender Erregung – offensichtlich gehen Scheherazades Geschichten nicht spurlos an Schahriar vorüber ...

Rimski-Korsakow nutzt für seine Komposition ein großes Symphonieorchester mit einer Vielfalt an instrumentalen Farben – ein Geschichtenerzähler hat erst einmal nur sich selbst. Um so wichtiger ist es, bei der Performance alle Möglichkeiten auszukosten. Karin Wedra verweist etwa auf die Bedeutung der Stimme: »Wie lasse ich meine Stimme klingen, wenn ich Jack the Ripper oder aber die Priesterin sprechen lasse?«, fragt sie und ergänzt schmunzelnd: „Besonders spannend wird es immer, wenn es um Wesen aus der Anderswelt geht, also um Götter oder Elfen – welche Stimme gebe ich denn denen?« Auch Tempi sind ein wichtiges Gestaltungsmoment: »Werde ich schneller, wenn es spannend wird? Und langsamer, wenn die Situation sich wieder beruhigt? Also: Wie lebe ich das alles? Da gibt es richtig viele Ähnlichkeiten zur Musik!« Auch in einem ganz normalen Gespräch bekommt man eine Ahnung davon, wie Karin Wedra als Geschichtenerzählerin agiert: Sie spricht mit dem ganzen Körper, gestikuliert lebendig – natürlich sind auch dies entscheidende Parameter beim Geschichtenerzählen: »Wir müssen ja die Bühne mit unserem Körper füllen.«

In allen Farben schillern

Wie man eine Geschichte darbieten will, hängt aber auch von ihrer Form ab. Als studierte Germanistin kennt Karin Wedra sich gut mit verschiedenen Erzählsystemen und -gattungen aus: »Der Klassiker ist natürlich die Heldenreise, wo du einen Gegenspieler hast und ganz verschiedene Abenteuer erlebst, also auch in ganz verschiedene Spannungen und Emotionen gehen kannst, oft auch in schnellen Wechseln von aufregend bis romantisch oder traurig.« Wieder anders sind Märchen – eine Form, die symbolisch dichter zugespitzt ist. Karin Wedra findet es wichtig, sich immer auch Gedanken über den eigenen Fokus zu machen: »Ich kann ein und dieselbe Geschichte ganz unterschiedlich erzählen, die Schwerpunkte und Perspektiven ganz anders wählen. Wenn fünf Leute die gleiche Geschichte erzählen, wird fünf mal was anderes rauskommen!«

Nikolai Rimski-Korsakow hat für seine »Scheherazade«-Suite vier Geschichten aus dem Fundus von »Tausendundeiner Nacht« ausgewählt: ›Das Meer und Sindbads Schiff‹, ›Die Erzählung des Prinzen Kalender‹, ›Der junge Prinz und die junge Prinzessin‹, ›Fest in Bagdad; das Meer. Das Schiff zerschellt an einer Klippe unter einem bronzenen Reiter‹. Anfangs wollte er solche konkreten Überschriften vermeiden und den vier Episoden nur abstrakte atmosphärische Überschriften geben: Zum einen hatte er Sorge, in die Programmmusik-Schublade gesteckt zu werden, zum andern war es ihm vielleicht auch ein Anliegen, jedem Zuhörer ein eigenes Kopfkino zu ermöglichen, ein individuelles Reiseerlebnis. Rimski-Korsakow selbst ist viel gereist, vor allem in jungen Jahren. Als Auszubildender im Seekadettenkorps und später als Marineoffizier kam er weit herum und verbrachte viel Zeit auf dem Meer. Die Dampfschifffahrt war zu seiner Zeit noch relativ jung, blühte aber um so heftiger auf: Immer zügiger pflügten sich die mächtigen Kolosse durch die Ozeane hindurch, immer schneller durchmaßen sie die Welt. Die Industrialisierung, unter deren Folgen der Planet Erde heute so sehr leidet, griff flächendeckend um sich. Von all diesen Entwicklungen ist in Rimski-Korsakows »Scheherazade« aber nichts zu spüren, sie entführt vielmehr in eine zauber- und märchenhafte Welt, angereichert durch Exotismen. Denn so, wie sich in der literarischen Vorlage indische, persische und arabische Einflüsse mischen, finden sich auch im musikalischen Gewebe Anklänge an ferne Länder. Die orientalisierenden Momente der Komposition entstehen durch Chromatik in den Intervallen, aber auch durch Farbtupfer von Instrumenten wie Tamburin oder Triangel. Mal ist die Tonsprache symphonisch monumental, mal wirkt sie fast schon impressionistisch. 

Auch gute Geschichtenerzähler schillern in verschiedenen Temperaturen, trumpfen mal bombastisch auf und sind im nächsten Moment wieder ganz zart und zerbrechlich. Aber was sind das eigentlich für Menschen, die ins Institut der »Sprechwerker« kommen, um Erzählen zu lernen? Sind es ambitionierte Großeltern, die ihren Enkelkindern endlich mal eine spektakuläre Gute-Nacht-Geschichte bieten wollen? Oder Lehrerinnen und Erzieher, die neue Stoffe brauchen, um ihre Rasselbanden zu zähmen? Ja, die seien auf jeden Fall auch dabei, bestätigt Karin Wedra – aber nicht nur. Denn erstaunlich viele andere Berufsfelder entdecken die Kraft des Geschichtenerzählens ebenfalls für sich: »Wir hatten zum Beispiel einen Polizisten, der Jugendarbeit gemacht hat und den Jugendlichen seine Anliegen lebendiger vermitteln wollte«, berichtet Wedra. »Eine Köchin war bei uns, weil sie ihren Gästen zwischen den Gängen gerne Geschichten erzählt. Auch in der Wirtschaft wird ›Storytelling‹ immer mehr zum Zauberwort: Wenn ein Großkonzern eine neue Vision aufstellt, kommen die Führungskräfte zum Training, um diese Vision authentisch rüberzubringen.« Was aber besonders aufhorchen lässt: Auch Menschen aus dem Naturschutz machen die Ausbildung im Erzählen – erst neulich hatte Karin Wedra wieder eine Naturschützerin im Seminar: »Die konnte am Ende richtige Naturgewalten auffahren!«, erinnert sie sich lachend. Doch warum wollen Umwelt-Botschafter das Erzählen lernen? »Wenn du Kindern oder auch Erwachsenen erzählst: Jedes Pflänzchen hat einen eigenes kleines Elflein, das auf es aufpasst, einen eigenen kleinen Patronus, dann schauen die Leute ganz anders auf so ein Pflänzchen drauf. Das macht ja was mit einem.« Und Geschichten dieser Art müssen noch nicht einmal neu erfunden werden, denn ein ganzer Fundus davon existiert bereits, so Wedra: »Es gibt ja unglaublich schöne, alte Sagen, Märchen von indigenen Völkern, wie die Welt entstanden ist. Oder auch Geschichten aus dem ursprünglichen Schottland, in denen die Jahreszeiten als Gottheiten dargestellt sind. Und wenn Naturgewalten personifiziert oder in Gottheiten umgedichtet werden, ist das natürlich spannend: Dann werden sie greifbarer, gerade auch für Kinder.«

Sich sensibilisieren für die Welt

Zwar kann eine gute Geschichte nicht konkret den CO2-Gehalt senken – doch sie kann in jedem Einzelnen den Blick auf die Welt sensibilisieren, die Liebe zur Natur stärken und im Idealfall das Handeln verändern. Eine Saison lang hat die Tonhalle Düsseldorf gemeinsam mit der Klimabotschafterin Lea Brückner an den »Green Mondays« über das Thema Klimawandel gesprochen, hat verschiedene Komponist*innen beauftragt, in Kurzstücken musikalische Reflexionen dazu zu liefern. Elf ganz verschiedene Mikro-Werke sind auf diese Weise entstanden: Kompositionen mit Instrumenten aus Müll wie »Upcyle« des Australiers Gordon Hamilton. Vertonungen von Hitze in ihren verschiedensten Ausprägungen, wie in «Heat efficiency» der Usbekin Aziza Sadikova. Oder »Furious Burials« von der Neuseeländerin Eve de Castro-Robinson, die sich mit einem Text des Ökologen Denys Trussell auseinandersetzt: »Viele Landschaften und Gewässer werden vom Klimawandel verschlungen. Sie schmelzen, werden überflutet, trocknen aus oder verbrennen.« Nun hat John Psathas Übergänge komponiert, mit deren Hilfe, alle elf Mikro-Werke zu einer großen Komposition zusammengefügt werden: zum »Green Piece«. Formal ein vielseitiges Kaleidoskop – so, wie auch die »Märchen aus Tausendundeiner Nacht« ein Patchwork aus vielen einzelnen, ineinander verwobenen Geschichten sind. Inhaltlich eine Verneigung vor dem Planeten Erde. Und eine eindringliche Aufforderung, ihn zu schützen. 

Fragt man Karin Wedra, wie ein modernes Märchen aussehen müsste, so zögert sie nicht lange mit der Antwort: »Letztendlich geht es immer um eins: Den Drachen zu besiegen.«

Doch wie sollen wir die vielen, vielen Drachen unserer Zeit besiegen? Scheherazade gelingt es, schließlich alles zu einem guten Ende zu führen: Der Sultan wandelt sich zum liebesfähigen Menschen und will sie nicht mehr töten. Wenn im Ausklang der Suite die Leitmotive der beiden Figuren wiederkehren, erscheint das Sultan-Thema nicht mehr herrisch und martialisch, sondern ›dolce‹ und ›pianissimo‹. Karin Wedra beobachtet übrigens in vielen Geschichten, dass Frauen Drachen anders besiegen als Männer: »Nicht mit dem Schwert und Feuer und dem kreischenden Tier, das tot niederfällt. Sondern mit Musik, mit Erlösung oder mit Liebe. Dann wird das Tier zahm, verwandelt sich zurück in seine Ursprungsgestalt oder geht einfach.«

Wie also wollen wir die Geschichte unserer Welt erzählen? Soll es eine Geschichte voller Kriege, Zerstörung und einem kollabierenden Planeten sein? Oder eine Geschichte, in der wir alle zusammen, im Einklang mit der Natur, ein erfülltes, friedliches Leben führen? Eigentlich ziemlich klar, welche Variante besser klingt, oder ...? Warum aber gelingt uns diese Erzählung nicht? Halten wir sie insgeheim für ein naives Märchen, das sowieso nicht in Erfüllung gehen kann? Doch nur, wenn wir aus der Ohnmacht heraustreten und ins Handeln gehen, werden wir zu Erzählenden. Nur dann können wir mitwirken an einer neuen Erzählung, die vielleicht irgendwann mit den Worten beginnt: Es waren einmal Menschen, die sorgten alle zusammen dafür, aus ihrer gemeinsamen Geschichte eine gute Geschichte zu machen.

Wer das Geschichtenerzählen lernen möchte: Karin Wedra und Barbara Greiner-Burkert bieten regelmäßig Seminare an, auch online.
www.die-sprechwerker.de