1906 kam es in einem edlen Pariser Salon zu einer für die Musik- wie auch für die Tanzgeschichte wegweisenden Begegnung. Gabriel Astruc, damals führender Konzertveranstalter, war zu einer Soirée bei der Mäzenin Gräfin Greffuhle eingeladen, als ihm ein mächtiger Russe vorgestellt wurde. Es war kein Geringerer als der aus St. Petersburg stammende, legendäre Impresario Sergej Diaghilew, der gerade dabei war, für Paris ein Festival mit russischer Musik zu planen. Astruc war begeistert. Und sofort bastelte er mit seinem neuen Freund an einem Programm, das im Mai 1907 über die Bühne gehen sollte. »Cinq Concert Russses« – so lautete der Titel dieses Mini-Festivals, bei dem man jetzt so ziemlich alles erleben konnte, was in jenen Jahren in Russland den Ton angab. Alexander Glasunow und der große alte Mann der russischen Musik Nikolai Rimski-Korsakow waren angereist, um ihre Werke zu dirigieren. Der fast zwei Meter große Sergej Rachmaninow hämmerte zur Begeisterung des Pariser Publikums mit riesigen Pranken die Oktaven seines 2. Klavierkonzerts in die Tasten. Und gleich der Eröffnungsabend am 15. Mai 1907 entwickelte sich in der Pariser Oper zu einem rauschenden Konzert. So erlebte auch der Ehrengast Richard Strauss in der Loge Diaghilews, wie der legendäre Bass Fjodor Schaljapin mit einer Arie aus der Oper »Fürst Igor« von Alexander Borodin derart begeisterte, dass das Publikum einfach nicht aufhören wollte zu applaudieren. Auch auf den Hinweis des Dirigenten, man möchte gerne weitermachen im Programm, reagierte man nicht. Weshalb er irgendwann seinen Taktstock wegwarf und frustriert von der Bühne ging.
Mitten im völlig enthusiasmierten Publikum saß auch Maurice Ravel. Wie viele seiner französischen Komponistenkollegen war Ravel ein großer Bewunderer der russischen Musik. Schon früh galt sie ihm als die ideale Antwort auf die allzu mythischen Stoffe und vor allem die Sinne vernebelnde Musik Wagners. Ravel liebte stattdessen die zupackende Spontaneität, die orchestrale Farbigkeit, aber auch die Exotik, die sich in unterschiedlichster Ausprägung durch die russischen Opern, Symphonien und Instrumentalwerke zogen. Kein Wunder, dass Ravel nun sicherlich auch ein wenig aufgeregt zu einem Bankett ging, das am besagten Abend nach dem Konzert zu Ehren der russischen Gäste gegeben wurde. Immerhin sollte er hier einigen seiner »russischen« Helden begegnen. Schaljapin, Glasunow, Rimski-Korsakow und Alexander Skrjabin nahmen an diesem Gala-Dinner teil. Außerdem waren Gabriel Fauré, Vincent d´Indy, Louis Messager geladen. Und mit Richard Strauss lernte Ravel einen Komponisten kennen, dessen »Salome« er kurz zuvor von Paris und unter dessen Leitung miterlebt hatte. Doch als der 32-jährige Ravel höchstwahrscheinlich völlig berauscht das Bankett verließ, konnte er wohl noch nicht erahnen, dass diese fünf russischen Konzerte den Anfang einer legendären Epoche markieren würden – bei der er selber eine Hauptrolle mitspielen sollte.
Ravels Begeisterung für die russische Musik hatte sich bereits früh in eigenen Werken niedergeschlagen. So komponierte er im Alter von 23 Jahren auf der Grundlage der Erzählungen aus »Tausendundeiner Nacht« eine Ouvertüre mit dem Titel »Shéhérazade« – womit er einen geistigen Bogen zur gleichnamigen Sinfonischen Suite Rimski-Korsakows schlug. Fünf Jahre später dann vertonte er drei Gedichte aus dieser Sammlung »Shéhérazade«. Und in diesen drei Orchesterliedern, durch die magische, orientalische Klangdüfte ziehen, erwies sich Ravel auch von der raffinierten Instrumentation her als phantasievoller »Meisterschüler« Rimski-Korsakows.
Die drei Orchesterlieder entstanden 1903 und damit in einem Jahr, in dem sich um Ravel herum in Paris eine Gruppe aus Komponisten, Schriftstellern und anderen Künstlern gründete. Es waren »Les Apaches« (Die Apachen), die sich jede Woche vor allem zu musikalischen »Ausschweifungen« traf, so Hans-Heinz Stuckenschmidt in seiner Ravel-Biographie. »Ravel brachte dabei regelmäßig große Stöße mit neuer russischer Musik mit, die man am Klavier unermüdlich durchpflügte. […] Man hatte Rimski-Korsakow bei seinen Konzerten kennengelernt, man begann sich für Tschaikowsky zu interessieren. In den Konzerten des Orchesters Pasdeloup wurde schon in den frühen achtziger Jahren häufig und mit einer gewissen Methodik die russische Moderne gepflegt.« Einen großen Einfluss auf die Gruppe um Ravel, Florent Schmitt und später auch Strawinsky übte der Symphoniker Alexander Borodin aus. Und als ungewöhnliches Zeichen ihrer Verehrung wählten die »Apachen« als musikalisches Erkennungssignal den Anfang aus Borodins 2. Symphonie.
In diesem musikalischen Klima bewegte sich Ravel also um die Jahrhundertwende. Und ab 1908 ging es in Paris richtig los. Mit all den Sensations- und Skandalaufführungen. 1908 kam es zu einer Aufführungsserie von Mussorgskys »Boris Godunow« mit Schaljapin in der Titelpartie. Und nachdem Diaghilew dem umtriebigen Konzertmanager Gabriel Astruc von wahren Ballettwundern vorgeschwärmt hatte, die in Russland für Furore sorgten, konnten 1909 dank spendabler Finanziers Vaclav Nijinsky, Anna Pawlowa sowie Ida Rubinstein im Théâtre du Châtelet bestaunt werden.
Die von Diaghilew gegründeten »Ballets Russes« erwiesen sich als absoluter Paukenschlag. Wobei aus dem Ensemble ein Tänzer alle anderen zu überragen schien. Es war Vaslav Nijinsky, den Diaghilew Astruc einmal mit folgenden Worten angepriesen hatte: »Die Natur hat ihn mit Kniekehlen aus Stahl begabt und mit Muskeln, deren Ausprägung an die großen Raubkatzen erinnert. Ein wahrer Löwe des Tanzes.« Die Stunde dieses zweibeinigen Tanzlöwen sollte schon bald kommen. 1911 übernahm er die Titelpartie in dem Ballett »Petruschka«, das von den Ballets Russes im Théâtre du Châtelet und zur Musik von Igor Strawinsky uraufgeführt wurde. Ein Jahr danach sorgte dann an diesem Ort Nijinsky mit seiner (erotisch aufgeladenen) Choreographie von Claude Debussys »Prélude à l´après-midi d´faune« für erneutes Aufsehen. Doch das sollte nichts gegenüber dem sein, was ihm 1913 mit seiner Choreographie von »Le Sacre du Printemps« gelang.
Auch Maurice Ravel gehörte zu den Auserwählten, die eng mit Diaghilew zusammenarbeiteten. So wurde 1912 seine Musik zu »Daphnis et Chloé« uraufgeführt – mit Ida Rubinstein und Vaslav Nijinsky in den Hauptrollen. Leider waren die Vorzeichen, unter denen die Produktion entstanden war, nicht günstig. So entwickelten sich bei den Proben heftige Spannungen zwischen Diaghilew und den Tänzern. Und wie Ravel später verriet, entpuppte sich die Komposition als eine »ununterbrochene Tortur«. Die Uraufführung am 8. Juni 1912 im Théâtre du Châtelet wurde so zu einem regelrechten Misserfolg. »›Daphnis et Chloé‹ hat mich in einen so bedauernswerten Zustand versetzt, dass ich mich aufs Land zurückziehen musste, um eine beginnende Neurasthenie [eine Form der Depression] auszukurieren.«
Zum Glück sollte Ravel schon bald wieder Hoffnung und Lebensmut schöpfen. Auch dank eines nun erfolgreichen Großprojekts. Zusammen mit seinem Freund Strawinsky machte er sich an die Instrumentation der Oper »Chowanschtschina« von Modest Mussorgsky. Mit Schaljapin in der Rolle des Dosifej wurde diese Fassung im Juni 1913 in der Pariser Oper gegeben – und gefeiert. Mit einem Instrumentalwerk von Mussorgsky fuhr dann schon bald das Orchestrationsgenie Ravel seinen bedeutendsten Triumph ein. Es ist seine kongeniale Orchesterfassung von Mussorgskys Klavier-Reigen »Bilder einer Ausstellung«.
Bereits 1896 hatte Ravel das Schaffen des Russen auch über Konzertvorlesungen kennengelernt, die der Mussorgsky-Biograph Pierre d'Alheim in Paris gab. Als nun fast drei Jahrzehnte später, im Jahr 1922, der russische Dirigent Serge Koussevitzky für eines seiner Konzerte in der Pariser Oper bei Ravel um die Orchestrierung der »Bilder einer Ausstellung« anklopfte, war dieser sofort Feuer und Flamme. »Das ›Große Tor von Kiew‹ ist endlich fertig«, so Ravel am 1. Mai 1922 in einem Brief an den Dirigenten. »Ich habe mit dem Ende begonnen, weil es das für die Orchestration uninteressanteste Stück war. Aber man glaubt es kaum, was eine so leichte Sache einem für Arbeit machen kann. Der Rest wird viel schneller gehen.«
Bei seiner überwältigenden Vergrößerung des Klavierwerks von 1874 strich Ravel zwar eine der »Promenaden«-Zwischenspiele. Dafür stellte er besonders das gesamte Blechbläser-Spektrum ins Zentrum des Geschehens, um das Charakteristische der zehn einzelnen Tongemälde noch stärker zu pointieren. So wurde etwa im sechsten Bild »Samuel Goldenberg und Schmuyle« der magere, bittstellende Schmuyle mit einer gestopften Trompete karikiert. Und bevor Ravel das Finale (»Das große Tor von Kiew«) mit einem großen, feierlichen Bläsersatz inszeniert, lässt er den schweren Ochsenkarren »Bydlo« (4. Bild) gar von der Tuba ziehen. Mit seiner Orchesterfassung erlebte Ravel einen fulminanten Erfolg. Am 19. Oktober 1922 wurde sie uraufgeführt. Und nachdem die sechsjährige Schutzfrist abgelaufen war, mit der sich der Dirigent Serge Koussevitzky das alleinige Aufführungsrecht gesichert hatte, gehören die »Bilder einer Ausstellung« in der Ravel-Fassung nicht nur zu den meistgespielten Orchesterwerken überhaupt. Ihre Popularität löste umgehend eine bis heute anhaltende Flut an Bearbeitungen des Klavieroriginals aus.
Dabei war Ravels Orchesterfassung nicht die erste ihrer Art. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich der russische Dirigent und Rimski-Korsakow-Schüler Mikhail Tushmalov an eine Bearbeitung gemacht. 1915 folgte dann der englische Dirigent Henry Wood mit seiner Version. Ravels »Bilder einer Ausstellung« ist aber weiterhin die beliebteste. Wenngleich nicht alle Dirigenten mit ihr zufrieden waren. So haben Arturo Toscanini und James Conlon Änderungen an der Partitur vorgenommen. Der Dirigent und Pianist Vladimir Ashkenazy erstellte seine eigene Orchesterbearbeitung, da er mit Ravels interpretatorischen Freiheiten und der Beibehaltung früher Druckfehler unzufrieden war. Und bereits 1939 stellte der legendäre wie schillernde Dirigent Leopold Stokowski eine eigene, sehr freie Orchestrierung vor, mit der er im Gegensatz zum gallischen Ansatz Ravels dem Stück seinen slawischen Tonfall zurückgeben wollte. Stokowski überarbeitete seine Fassung im Laufe der Jahre mehrmals und machte drei Schallplattenaufnahmen davon (1939, 1941 und 1965).
Überhaupt haben die bearbeiteten »Bilder einer Ausstellung« auch auf Schallplatte schon früh Karriere gemacht. So spielte der Uraufführungsdirigent Serge Koussevitzky als erster die Ravel-Partitur ein – und das am Pult des Boston Symphony Orchestra. Damit löste Koussevitzky nicht nur einen Boom auf dem Tonträgermarkt aus. Fortan entwickelte sich das Werk gerade bei den enorm brillanten US-amerikanischen Top-Orchestern zu einem regelrechten Reißer. Leopold Stokowski, Eugene Ormandy und Riccardo Muti taten sich dafür mit dem Philadelphia Orchestra zusammen. Zubin Mehta bildete mit der Los Angeles Philharmonic ein virtuoses Team. Und zu den absoluten Aufnahmeklassikern gehören die klangkulinarisch unerreichten Würfe von Rafael Kubelik bzw. Fritz Reiner mit dem Chicago Symphony Orchestra.
Im Laufe der schier unendlichen Aufnahme- und Bearbeitungsgeschichte der »Bilder einer Ausstellung« sind zudem kuriose Fassungen entstanden. So gibt es den Zyklus für Solo-Akkordeon oder für drei Gitarren, für 16 Blechbläser oder sogar für 44(!) Pianisten. Mit ihrer rockig dampfenden Einspielung gelang 1971 der Band Emerson, Lake & Palmer ein Mega-Seller – der nur wenige Jahre von dem japanischen Klangelektroniker Isao Tomita überholt wurde. Seine poppig-blubbernde Synthie-Version der »Bilder« ging immerhin in nur fünf Monaten stolze eine Million Mal über die Ladentheke. Mussorgskys »Gnome« quasi im Klangflipper.
Eine der auch künstlerisch aufwendigsten Neurahmungen der »Bilder einer Ausstellung« legte Anfang des 21. Jahrhunderts der norwegische Starpianist Leif Ove Andsnes vor. »Das Werk bietet sich zum Experimentieren geradezu an«, so Andsnes über die Klang-Kunst-Installation »Pictures Reframed«. »Mussorgskys Musik ist von unglaublich starker Wirkung, aber gleichzeitig sehr offen und experimentell. Im Mittelpunkt stehen nicht die eigentlichen Noten, sondern die Vision des Komponisten. Für mich bleibt die Originalversion des Werks quasi eine Skizze, die offen ist für Veränderungen.« Und für solch eine Veränderung ging Andsnes regelrecht baden. So konnte man 2009 bei der Uraufführung von »Pictures Reframed« im New Yorker Lincoln Center auf einer riesigen Videoleinwand erleben, wie Andsnes in seiner froschgrünen Regenjacke und sein Flügel langsam nasse Füße bekommen. Ort des Geschehens war nämlich kein Konzertsaal, sondern ein trockenes Schiffsdock, dessen Schleusen nun geöffnet wurden. Zu Mussorgskys Finalstück »Das Große Tor von Kiew« stürzten so die Wassermassen über Andsnes herüber. Und während er noch rechtzeitig herausgefischt wurde, soff sein Instrument der Wuppertaler Traditionsmarke Ibach ab.
Verantwortlich für diese spektakuläre Dokumentation vom Untergang eines Flügels war der südafrikanische Aktions- und Video-Künstler Robin Rhode, für den sich der Flügel »in eine Art von versunkenem Schatz verwandelt, den man neu entdecken muss.« Und wie die unendliche musikalische Übermalungsgeschichte der »Bilder einer Ausstellung« belegt, stecken in ihnen weiterhin zahlreiche Geheimnisse und Geschichten, die noch lange nicht entdeckt und auserzählt sind.