Die Hoffnung der Nachgeborenen

Sind Brahms und die Menschenrechte irgendwie unter einen Hut zu bringen? Von Matthias Corvin

Ein außergewöhnlicher Bibelspruch lautet: »Da preise ich immer wieder die Toten, die schon gestorben sind, und nicht die Lebenden, die noch leben müssen. Glücklicher aber als beide preise ich den, der noch nicht geworden ist, der noch nicht das schlimme Tun gesehen hat, das unter der Sonne getan wird.« Er steht im alttestamentarischen Buch Kohelet, stammt aber aus der Hebräischen Bibel. Johannes Brahms vertonte die Verse in seinen »Vier ernsten Gesängen« für Bassstimme und Klavier, eines seiner letzten Werke. Dabei verwendete der Protestant den abweichenden Wortlaut der Lutherbibel, wo das Buch »Prediger« betitelt ist.

Doch was meinen diese so pessimistisch klingenden Zeilen? Wenn man nicht lebt, erfährt man auch nichts Böses? Aber doch sicher auch: Ein noch nicht geborener Mensch ist von Natur aus nicht schlecht, in seiner DNA ist das nicht angelegt. Erst ein atmender Mensch ist dazu fähig. Er kann Kriege beginnen, Mitmenschen drangsalieren und morden. Er kann sich, seine Herkunft, seine politischen Anschauungen, sein Geschlecht oder seine Religion über die der anderen stellen. All das widerspricht den Menschenrechten, nach denen die Würde jedes Menschen unantastbar ist. Jede Art von Diskriminierung ist inakzeptabel. Europarat und Vereinte Nationen wahren diese Menschenrechte. Sie stehen aber auch ganz vorne im deutschen Grundgesetz. Eben, weil sie so wichtig sind. Jeder Mensch kann sich darauf berufen.

Ein unpolitischer Mensch?

Brahms und die Menschenrechte — das ist nicht ohne weiteres unter einen Hut zu bekommen. Er wohnte meist in Wien, Hauptstadt der mächtigen Donaumonarchie. Gegen politische Proteste ging der Vielvölkerstaat meist unnachgiebig vor. Doch auch das 1871 gegründete Deutsche Reich stieg damals zur Weltmacht auf. Die Kolonialisierung war in vollem Gang. Während das Publikum den Komponisten in den 1880er-Jahren feierte, wurden Deutsch-Südwestafrika (Namibia) und Deutsch-Ostafrika (Tansania, Burundi, Ruanda und ein Teil von Mosambik) okkupiert. Durch den weltweiten Handel erhoffte man sich eine bessere Position gegenüber den Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich, Russland, Japan und den USA. Manch einer träumte schon von einem »deutschen Indien«. Die Kolonialtruppen stellten sich über die einheimische Bevölkerung, da man technisch überlegen war. Auf die in Afrika lebenden Stämme und ihre Traditionen schaute man herab, nutzte aber gerne ihre Arbeitskraft. Menschenrechte wurden da nicht groß geachtet.
Einige Jahre nach Brahms' Tod endeten die anhaltenden Konflikte im Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika und im niedergeschlagenen Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Südafrika. Verständnis für die Ansprüche der einheimischen Völker an ihrem Land war nicht wirklich vorhanden. Wie Brahms zur Kolonialisierung stand, wissen wir nicht. Preußen und damit das Deutsche Reich erkannte er allerdings früh als Motor des Fortschritts an. Meist konzentrierte er sich aber auf seine Kunst. Zum Zeitgeschehen und zur Politik äußerte er sich nur beiläufig. Daher ist nicht bekannt, welche genaue Meinung er vertrat oder was für ihn etwa Menschenwürde bedeutet hätte.

Ein Mann mit Bindungsängsten

Auch lebte Brahms in einer Zeit, als Frauen noch kein Wahlrecht hatten. Das kam in Deutschland und Österreich erst 1918. Die Gleichberechtigung wurde besonders hierzulande noch wesentlich später im Gesetz verankert. 
Zu Brahms' Lebzeiten herrschten noch alte Rollenbilder. Auch die Orchester bestanden ausschließlich aus Männern. Nur an der Harfe saß fast immer eine Frau. Immerhin gab es einige Solistinnen, die mit Orchestern auftraten, und natürlich Sängerinnen. Deren Stimmen hatten es dem jungen Brahms ganz besonders angetan. In seiner Geburtsstadt Hamburg begründete der 26-Jährige daher einen Frauenchor, für den er einige Werke komponierte.
In Alfred von Ehrmanns Brahms-Biografie zum 100. Geburtstag des Komponisten liest man daher die Zeilen: »Spricht man mit Frauen, die ihn noch kannten, über ihn, so leuchten alte Augen in jugendlichem Feuer wieder auf, und aus hundert Variationen schwärmerischer Erinnerung klingt das eine Thema: ‚Ein guter Mensch! Man musste ihn lieben.‘« Doch war es wirklich so? Gerade mit Frauen kam Brahms nicht immer gut zurecht. Manche Liebelei wurde ihm nachgesagt. Einmal verlobte er sich kurz, um dann plötzlich abzutauchen.

Ein Mensch der Gegensätze

Brahms wird als liebevoller, aber auch aufbrausender Charakter beschrieben. Über seine eigene Musik urteilte er meist scharf. So berichtete etwa sein einziger Kompositionsschüler Gustav Jenner: »Jeder, der Johannes Brahms nähergestanden hat, weiß, wie kurz wegwerfend, fast verletzend er von seinen eigenen Werken sprechen konnte; gerade auf diesem Gebiet war es schwerer als sonst, ihn richtig zu verstehen.« Doch nicht nur bei sich selbst, auch gegenüber seinem Kollegen Anton Bruckner konnte Brahms richtig gemein werden. Dessen Symphonien seien »ein Schwindel, der in ein bis zwei Jahren tot und vergessen sein wird«, wetterte er einmal. Von der Presse wurde dieser Streit aufgebauscht. Brahms und Bruckner — das waren Antipoden. Und das wussten alle.
1896 kam er dann doch zu Bruckners Trauerfeier in die Wiener Karlskirche. Das erzählte der Komponist und Dirigent Bernhard Paumgartner, der es als Junge erlebte: »Ganz Wien drängte sich zu dieser Feier. Mit allen Schlupfwinkeln meines Reviers vertraut, war ich durch ein Seitenpförtchen über die Sakristei in die Kirche geschlüpft. Unweit von mir stand zu meinem Erstaunen, beinahe im Dunkeln, von einem Pfeiler vor der allgemeinen Neugierde versteckt, Johannes Brahms. Tränen rannen ihm über die hageren, vom nahen Tod schon gezeichneten Wangen in den Bart.« Was für ein Bild und zweifelsohne verklärend ausgeschmückt. Doch auch dies beweist: Brahms war ein Mensch der Gegensätze.

Eine Frage steht dennoch im Raum: Färbte das Weltbild seines engsten Kreises auf ihn ab? Zu seinen besten Freunden gehörte der führende Bauchchirurg Theodor Billroth, ein Pionier der Medizin. Der Arzt spielte selbst Violine und Klavier. Er fiel allerdings auch durch antisemitische Äußerungen auf. So bezeichnete er als Professor der Wiener Universität seine jüdische Studierendenschaft einmal als »das leider nicht ganz auszurottende Unkraut«. Auch eine stark deutschnationale Gesinnung ist aus seinen Publikationen ablesbar. In den letzten Jahren wurde daher überlegt, die Billrothstraßen in Wien und Graz umzubenennen. Und das, obwohl Billroth leider spät, aber immerhin dem Wiener »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« beitrat. Damit setzte er sich gegen die Diffamierung seiner jüdischen Mitmenschen ein, für die das Klima in Wien immer schlimmer wurde. 

Brahms äußerte sich zum Thema wohltuend klar: »Antisemitismus ist Wahnsinn«, wetterte er kurz vor seinem Tod. Gemünzt war das gegen Karl Luegers erzkonservative Christlichsoziale Partei, die unter anderem den Ausschluss jüdischer Menschen aus der Gesellschaft und von höheren Ämtern forderte. War es auch bei Brahms eine späte Einsicht? Auch dem Wagnerkult und Bayreuth als Brutstätte »Völkischen Denkens« stand er durchaus skeptisch gegenüber, obzwar er den Komponisten Richard Wagner anerkannte.

Ein wenig deutschpatriotisch war er dennoch. So feiert seine Kantate »Triumphlied« von 1871/72 den Sieg über Frankreich und die Deutsche Reichsgründung. Widmungsträger ist natürlich der deutschen Kaiser Wilhelm I. Der biblische Text basiert auf der »Offenbarung des Johannes«. Prophezeit wird der Untergang Babylons, ein Symbol für Sündhaftigkeit und Gottlosigkeit. Schlimmer kann man unser Nachbarland Frankreich nicht beschimpfen. Zum Glück ist diese Kantate heute fast vergessen.

Ein »moderater Demokrat«

Solche Bekenntniswerke zum eigenen Land findet man bei vielen Komponierenden dieser Ära. Sie sollten nicht überbewertet werden. Unterm Strich wirkt der Mensch Brahms aus heutiger Sicht daher wesentlich sympathischer als etwa der politisch zündelnde Wagner. Der Musikpublizist Frieder Reininghaus bezeichnete ihn in einem Artikel für die »taz« von 1997 sogar als »moderaten Demokraten unter spätfeudalem Dach«. Sicher trifft das irgendwie zu.
Die heute von ihm gespielte »Tragische Ouvertüre« zählt zu seinen persönlichsten Werken. Sie ist das düstere Gegenstück zur »Akademischen Festouvertüre«, einem lustigen Potpourri bekannter Studentenlieder. Brahms' enger Freund Max Kalbeck bezog diese »Tragische Ouvertüre« sogar auf Goethes Schauspiel »Faust«. Die Hauptfigur gehört zu den berühmten Sinnsuchern der Literatur. Um die letzten Dinge zu ergründen geht sie sogar einen Pakt mit dem Teufel ein. Der Zusammenhang von Brahms' Musik mit dem »Faust«-Stoff wurde allerdings immer wieder bezweifelt. Denn aufgeführt wurde die Konzertouvertüre am 26. Dezember 1880 durch die Wiener Philharmoniker ohne Programm.

Ein »wahrhaftiger Mensch«

Auf dem heutigen Konzertprogramm steht ebenfalls Brahms' vierte und letzte Symphonie, die als Höhepunkt seines Schaffens gilt. Erstmals erklang sie am 25. Oktober 1885 mit der Meininger Hofkapelle, einem Spitzenensemble jener Tage. Damals wirkte dort der junge Richard Strauss als Kapellmeister neben dem scheidenden Hans von Bülow. Zum älteren Brahms entwickelte der 21-jährige Strauss eine Art Schüler-Lehrer-Verhältnis, auch wenn er bald ganz andere Wege einschlug als sein Mentor. Diese Freundschaft zweier ungleicher Naturelle spricht für Brahms‘ offenes Ohr. Auch an der Musik deutlich Jüngerer war er interessiert und konnte deren Qualität richtig einschätzen.
Trotz seines mitunter energischen Charakters brachte Brahms seine Gefühle meist unter Kontrolle. In jungen Jahren sagte er sich sogar von allen »Leidenschaften« los. Denn diese, so Brahms, »gehören nicht zum Menschen als etwas Natürliches. Sie sind immer Ausnahme oder Auswüchse. Bei wem sie das Maß überschreiten, der muss sich als Kranken betrachten und durch Arznei für sein Leben und seine Gesundheit sorgen. Ruhig in der Freude und ruhig im Schmerz und Kummer ist der schöne, wahrhaftige Mensch. Leidenschaften müssen bald vergehen, oder man muss sie vertreiben.«

Ein weiser Wegbereiter

Eine krasse Aussage. Doch entfesselte Leidenschaften betreffen ja nicht nur die Liebe, sondern auch den Hass. Werden sie nicht von der Vernunft gesteuert, können sie auch zum Bösen verleiten. Auch so könnte das einleitende Bibelzitat aus dem »Buch Kohelet« gemeint sein. Der Prediger glaubte zwar an Gott, doch noch nicht an das ewige Leben. Daher soll jeder Mensch aus seiner begrenzten Lebenszeit das Beste machen. Vielleicht meinte Brahms genau das, als er die Textpassage in seine »Vier ernsten Gesänge« einbaute. Denn besonders gläubig im Sinne der Kirche war er nie. Und große Hoffnung auf das Jenseits ist auch aus seinem »Deutschen Requiem« nicht rauszuhören. Eher versuchte Brahms im Leben einiges richtig zu machen. Und dazu gehört zum Beispiel die Unterstützung von Antonín Dvořák, den er unter seine Fittiche nahm. Er gestand sogar ein, dass er den Kollegen um dessen Melodien beneide. Auch den berühmten »Donauwalzer« von Johann Strauss kommentierte er mit den Worten »Leider nicht von mir!«. So ehrlich waren nur wenige in jener von Kunst-Polemik geprägten Zeit. Daher wirkt der alternde Brahms mit seinem langen Rauschebart wie ein weiser Wegbereiter.
Wie schön wäre es, wenn er von einer Welt geträumt hätte, in der alle Menschenrechte geachtet werden! Seine Zeit war sicher noch nicht bereit dafür. Doch vielleicht spricht seine Musik ja auch diese Hoffnung aus.