Wer pachtet die Freiheit der Worte?

Wem steht die Wahrheit zu? Wer hat das Recht, sich ihr anzunähern, sie aufzuspüren, sie auszusprechen, sie zu veröffentlichen?

Für uns befindet sich die Antwort zu diesen Fragen in Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes. Unter besonderem Schutz stehen hier die fünf eigenständigen Grundrechte, die zum wesentlichen Kern der demokratischen Gesellschaft beitragen. Unmissverständlich gehört hierzu die Vierte Gewalt: die Informations-, Presse-, Rundfunkfreiheit. So stark postuliert zeigt sich weltweit, wie sie untergraben, boykottiert und skrupellos einschränkt wird. Namenlose Zahlen erzählen von Journalist*innen: bedroht, angegriffen, entführt, ermordet. Global nimmt die Unterdrückung von kritischer Berichterstattung zu, während die Aufklärungsquote hinten zurückbleibt, wie die Bundeszentrale für politische Bildung erklärt.

»Schwarzer Schnee«

Eine künstlerische Aufarbeitung leistet der Geiger, Komponist, Pianist und Dirigent René Staar in seinem Mini-Oratorium »Schwarzer Schnee« , das den weltweit stattfindenden Angriff auf das Menschenrecht Pressefreiheit ins Zentrum rückt. Es geht »um jene, die den Mut und die Kraft aufbringen, uns über das oft verborgene Unrecht aufzuklären, das tagtäglich in unserer Welt geschieht«, schreibt Staar. Noch während sein Werk seit 2021 auf die eigene Uraufführung wartete, verschärfte sich die Situation: Im Jahr 2022 war die Zahl inhaftierter Journalist*innen sprunghaft auf ein neues Level angestiegen: Laut Reporter ohne Grenzen saßen global 533 Medienschaffende im Gefängnis (28% mehr als im Vorjahr), 65 wurden aufgrund ihrer Arbeit entführt, 49 vermisst, 57 getötet.

Réne Staar tastet in »Schwarzer Schnee« musikalisch wie emotional nach außen und innen. Er betitelt das Konkrete und verweist auf das Abstrakte. Er benennt Namen und Schicksale, entwirft in der »Stele für ermordete Journalisten« wortwörtlich ein Denkmal und lässt die Journalist*innen von einer anonymen Zahl zum Individuum werden. Aslı Erdoğan, Symbolfigur für die Meinungsfreiheit und das Ausmaß der türkischen Willkürherrschaft, inspirierte Staar zur Basis seines Werks. Aus Erdoğans Essaysammlung »Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch« formte Staar eine Textcollage, die das Verschwinden einer geliebten Person, die Empörung über das Unrecht und letztlich die Trauer und Leere thematisieren. Diese quasi-persönlichen Schilderungen fungieren als Projektionsfläche, lassen das Grauen greifbar werden und zeigen die Gedanken der Hinterbliebenen.

Daneben reicherte Staar sein Oratorium mit beklemmender Lyrik an. Sie färbt das Geschehen zwar atmosphärisch, knüpft an die Essays Erdoğans aber nur scheinbar an. Etwa mit den Versen »Hört auf zu schreien« von Giuseppe Ungaretti – der mit seiner dunklen Lyrik führender Vertreter des literarischen Ermetismo war. Oder das die Zeit quälend ausdehnende Gedicht »Ebenen von Dauer« von Jannis Ritsos – der während der deutschen Okkupation Chronist des griechischen Widerstands war und 1948 mit Tausenden anderen festgenommen und in die Verbannung deportiert wurde.

Staar legitimiert in seinem Werk symbolhaft all jene, die verstummt sind. Statt der Pressefreiheit, die ihr eigentlicher Schutz hätte sein müssen, lässt er ein weiteres Grundrecht aus Artikel 5 des Grundgesetzes walten: die Kunstfreiheit. Das investigative, journalistische Wort wird bei ihm zum künstlerischen, zum skandierten, zum rezitierten, zum gesungenen Wort. Staar verleiht den Opfern eine Stimme – und allen Nachfolgenden. »Es ist ja nicht vorbei, es passiert immer wieder«, erklärt Staar resigniert.

Hymne der Freiheit

Der Klang der Freiheit und des Aufbegehrens ertönt in Robert Schumanns Ouvertüre zu Goethes »Hermann und Dorothea«. Obwohl ihrer Gattung entsprechend ohne Vokaltext aufwartend, schwingt in der Ouvertüre unmissverständlich eine Hymne mit. Sie unterbricht den melodischen Fluss, wird gleichsam von ihr unterbrochen, thematisch verarbeitet und wirkt wie der Fremdkörper eines Nebenschauplatzes. Bis zum Schluss ist unklar, welche formale Aufgabe diese Hymne übernimmt. Die Rede ist von der »Marseillaise«; der Nationalhymne Frankreichs.

Heute ist sie eine der bekanntesten Hymnen der Welt, ein Symbol für Einheit und Freiheit und ein symbolisches Erbe der Französischen Revolution. Nur letzteres bedeutete sie auch zu Schumanns Lebzeit.

1792 parallel zur französischen Kriegserklärung des Ersten Koalitionskrieges im Elsass entworfen, trug die »Marseillaise« ursprünglich den Titel »Kriegslied für die Rheinarmee«. 1793 wurde verfügt, dass sie auf allen öffentlichen Veranstaltungen gesungen werden sollte und zwei Jahre später avancierte sie zum »französischen Nationalgesang«. Ihr vorerst letzter offizieller Auftritt fand allerdings am 14. Juli 1800 statt. Denn während des napoleonischen Kaiserreichs war sie aufgrund ihrer jakobinischen Aussage verboten. Dieses Verbot hielt sich von 1804 bis ins Jahr 1830 in der bourbonischen Restauration. Erst ab der Julimonarchie (1830-1848) war ihr Verbot aufgehoben. Sie galt weiterhin als aufrührerisches Lied der Opposition.

Am 2. Dezember 1851 riss Napoleon III. die Macht Frankreichs an sich, setzte die demokratischen Institutionen der Zweiten Republik außer Kraft und ernannte sich selbst zum Präsidenten. Schumann notierte diesen Vorfall nur knapp ins Haushaltbuch »Nachrichten a.[us] Frankreich« und komponierte vom 19. bis 23.12.1851 seine Ouvertüre »Hermann und Dorothea«. Sie fußt auf dem gleichnamigen Versepos von Johann Wolfgang von Goethe (1797) und spielt während den politischen Wirren der Französischen ­Revolution. Die Geschichte erzählt von der zunächst scheiternden, dann doch glücklich endenden Liebe des schüchternen Gastwirtssohns Hermann zur armen Dorothea. Ob der aktuelle Staatsstreich in Frankreich tatsächlich ausschlaggebend für Schumanns kompositorische Umsetzung war, sei dahingestellt. Das Epos zählte allerdings schon lange zur Lieblingslektüre des Komponisten. Bereits 1845 notierte Schumann, dass er »Hermann und Dorothea« bereits zum 10. Mal gelesen habe. Er erwog die Idee, eine Oper über den Stoff zu schreiben, erdachte ein Singspiel und formulierte nach Vollendung der Ouvertüre sogar ein »Concert-Oratorium«. Letztlich blieb es aber bei der schnell komponierten Ouvertüre, die zur Eröffnung des »Singspiels bestimmt war, dessen erste Scene den Abzug von Soldaten der Französischen Republik darstellte«. So begründete Schumann den Einbezug der Marseillaise, die er ganz realitätsgetreu mit einer »Trommel hinter der Szene« instrumentierte. »Kriegerisch und anmutig zugleich« beschrieb Clara Schumann die Ouvertüre »Hermann und Dorothea«, die 1857 postum erstaufgeführt wurde.

Erst 22 Jahre später (1879) wandte man sich der Marseillaise wieder gänzlich in Frankreich zu und ernannte sie per Beschluss zur offiziellen Nationalhymne.

Eine letzte Symphonie

1851 war nicht nur das Jahr des französischen Staatsstreichs, in dem Schumann seine lang gehegte Goethe-Inspiration umsetzte. Es war auch das Jahr, in dem er sich als Städtischer Musikdirektor in Düsseldorf beweisen wollte. Die erste Saison war vorangeschritten, erste Unstimmigkeiten mit Chor sowie Orchester kamen zu Tage, da geriet Schumann nach dem Erfolg seiner »Rheinischen«, der 3. Symphonie, womöglich unter Druck, neue Werke vorzuweisen. Er holte ein Werk hervor, das er knapp 10 Jahre nicht mehr angetastet hatte: seine ehemals 2. Symphonie in einem Satz, die zur 4. Symphonie werden sollte. Vom 12.-19. Dezember 1851, also nur innerhalb einer Woche und unmittelbar vor »Hermann und Dorothea«, instrumentierte er das Werk neu. Dann zögerte er doch wieder, verfasste wiederum ein Jahr später erst zaghaft einen Klavierauszug und brachte das Werk am 3. März 1853 zur Uraufführung. Die Symphonie beeindruckte das Düsseldorfer Publikum derart, dass Schumann es kaum glauben konnte. Die Vorbehalte, das Vor- und Zurückrudern und letztlich auch die Überraschung Schumanns sind keinesfalls als falscher Stolz aufzufassen, weisen sie eher auf die unglückliche Vorgeschichte der Komposition hin.

Leipzig 1841: Der frisch vermählte Robert Schumann strotzte vor Energie und Einfallsreichtum. Sein »Liederjahr« lag hinter ihm, in dem er fast die Hälfte seines gesamten Liedœuvres geschaffen hatte. Sein Kammermusikjahr (1842) lag vor ihm. 1841 stand im Zeichen orchestraler Werke. »In feuriger Stunde geboren« komponierte er innerhalb von vier Tagen seine Erste, die »Frühlingssymphonie«. Im Mai folgten dann Skizzen zu einer weiteren Symphonie, diesmal in d-Moll und mit experimentellen Zügen: Er verknüpfte alle Sätze zu einem ununterbrochenen Fluss und entwickelte dafür Material aus nur zwei grundlegenden Melodie-Kernen. Dieses Musterbeispiel einer organischen Komposition kommentierte Schumann am 1. August 1841 zufrieden mit »Zieml. [ich) glükl. [iche] Beendigung m.[einer] zweiten Symphonie.« Doch die Euphorie verpuffte, als das Publikum bei der Uraufführung 1841 über die quasi einsätzige Symphonie mehr verwirrt denn begeistert reagierte. Auch der Verlag Breitkopf & Härtel sah von einer Publikation ab – womöglich aus Angst vor geringen Verkaufszahlen.

Das Blatt hatte sich 1853 gewendet. Das lag nicht unbedingt daran, dass Schumann die 2. – nun 4. – Symphonie drastisch umgearbeitet hatte, sondern dass sich sowohl das Musikverständnis des Publikums als auch Schumanns Position und Ruf als Orchesterkomponist verändert hatten. Schumann unterstrich in dieser zweiten Fassung die viersätzige Form und bearbeitete vor allem die Instrumentation. Ein Umstand, der in erster Linie der Umsetzung geschuldet war. Schumann passte seine Orchestrierung wie gewohnt an das jeweils vorhandene Ensemble an. Sein Düsseldorfer Orchester setzte sich aus Berufsmusikern und Amateuren zusammen. Für diese Konstellation überließ er nichts dem Zufall, sondern staffierte seine Partitur mit unmissverständlichen Anweisungen aus. Und er doppelte die Stimmen, um maximale Zuverlässigkeit zu gewährleisten. Die Besetzung wurde dadurch üppiger, mitunter überladen.

Die 4. Symphonie ist nicht nur die letzte Symphonie, mit der sich Schumann beschäftigte, sie ist auch eines seiner einflussreichsten Orchesterwerke. Ein letzter, enormer Schaffensschub setzte noch im Jahr 1853 ein – unter anderem ausgelöst durch die aufblühende, musikalische Freundschaft zum damals 20jährigen Johannes Brahms, der Schumann in Düsseldorf besuchte. Doch das Hoch währte nur einige Monate lang. Nach Unstimmigkeiten mit dem Komitee des Musikvereins kündigte Schumann seinen Posten im Oktober 1853. Neben dem Dirigieren verzichtete er von nun an auch aufs Komponieren. Schumanns psychischer Leidensdruck erhöhte sich massiv, und fast genau ein Jahr nach der grandiosen Uraufführung seiner 4. Symphonie ließ er sich in die Nervenheilanstalt in Endenich einliefern.

Schumann als Musikjournalist

Zeitlebens verband sich in der Person Robert Schumann der Dirigent, Komponist und Literat. Dabei waren musikalisch-literarische Persönlichkeiten im 19. Jahrhundert keine Seltenheit, lagen Musik und Poesie, Ton und Wort doch an einem Funktionsübergang. Richard Wagner, E.T.A. Hoffmann und Franz Liszt sind nur einige Beispiele hierfür. Gleichzeitig emanzipierte sich schon Ende des 18. Jahrhunderts eine eigenständige Musikpublizistik. Vor allem die Musikkritik richtete sich nun nicht mehr ausschließlich an eine gelehrte Kennerschaft, sondern etablierte sich für ein breiteres Lesepublikum als fester Bestandteil der feuilletonistischen Berichterstattung. Für den jungen Schumann waren sowohl die musikalisierte Poesie wie auch das Musikfeuilleton reizvolle Anknüpfungspunkte. Neben dem Komponieren fungierte er bis 1844 auch in der Doppelfunktion als Herausgeber und Redakteur der 1834 gegründeten und bis heute publizierenden »Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik«.

Im Gegensatz zu Zeitgenossen wie Richard Wagner begab sich Schumann höchst selten in (musik-)politische Gefilde und ließ die Freiheit der Worte über andere Themen walten.