Und da stand Anton Bruckner also auf dem Friedhof wie Hamlet, in der Hand einen Totenschädel – Ludwig van Beethovens Schädel. Beethovens Schädel! Bruckner, ebenso genial wie kauzig, konnte sein Glück kaum fassen. Auf diese Weise wortwörtlich in Kontakt mit dem von ihm hochverehrten Komponisten zu kommen, hätte er sich nicht träumen lassen. Zumal er die Gelegenheit nur einer unwahrscheinlichen Volte des Schicksals verdankte: Es handelte sich immerhin bereits um Beethovens zweite Exhumierung. Von wegen »Ruhe in Frieden«! Das Räuspern des Pathologen, ob er den Schädel jetzt vielleicht mal aus der Hand geben würde, den zu berühren eigentlich nur medizinischem Fachpersonal zustand, überhörte Bruckner gnädig. Geistesabwesend studierte der 63-Jährige die Knochen und flüsterte laut Augenzeugen ergriffen: »Nicht wahr, lieber Beethoven, Du würdest es erlauben, dass ich Dich angreife.«
Wie konnte es zu dieser vielleicht absurdesten Szene der gesamten Musikgeschichte kommen?
60 Jahre zuvor war Beethoven verstorben, vermutlich an einer Leberzirrhose infolge seiner Vorliebe für Weißwein, der damals oft mit giftigem Bleizucker gesüßt wurde, und der Behandlung eines akuten Ödems mit desinfizierender Bleisalbe. Seine Beisetzung am 29. März 1827 geriet zum Massen-Event; gut 20.000 Menschen erwiesen ihm die letzte Ehre. Acht Sänger trugen den Sarg, acht Dirigenten hielten weiße Bänder darüber, 36 Künstler umringten ihn als Fackelträger – unter ihnen Franz Grillparzer, der die offizielle Trauerrede verfasste, und Franz Schubert, der nur ein Jahr später denselben Weg getragen werden sollte. Für die 500 Meter von Beethovens Sterbehaus bis zur nächstgelegenen Kirche brauchte der Trauerzug anderthalb Stunden. Nach dem Gottesdienst begleiteten 200 Kutschen den Sarg zum Friedhof im Wiener Ortsteil Währing, wo er feierlich beigesetzt wurde.
Keiner der Anwesenden konnte ahnen, dass es nur die erste von insgesamt drei Beerdigungen werden sollte. Denn Beethovens Totenruhe hielt nur 36 Jahre: Im Herbst 1863 drängte die »Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates« erfolgreich auf eine erste Exhumierung, um seine sterblichen Überreste vor »weiterer Verwesung« zu bewahren und ihn »in würdiger Weise« zu bestatten. Man öffnete das Grab also wieder – leichter gesagt als getan, denn um morbide Souvenirjäger abzuhalten, war der Sarg mit einem Gewölbe aus Ziegelsteinen übermauert worden. Erst nach acht Stunden Schwerstarbeit stieß man auf die Überreste des Holzsarges und des Komponisten. Die Gebeine wurden »in möglichst natürlicher Lage« in einen konservierenden Metallsarg umgebettet – wofür man die Rückenwirbel auf einen Bindfaden auffädelte – und samt der Überbleibsel der Kleidung und des alten Sarges erneut beigesetzt. (Genauso verfuhr man mit Franz Schubert, inzwischen Beethovens »Nachbar«.)
Zuvor allerdings nutzte man die Gelegenheit, die Knochen und insbesondere den Schädel genau zu untersuchen, zu vermessen und Gipsabdrücke zu nehmen. Ohnehin war der Kopf nicht mehr intakt: Beethoven selbst hatte verfügt, posthum eine Obduktion vorzunehmen, um seiner Taubheit auf die Spur zu kommen, die seine Karriere als Pianist so schmerzlich beendet und ihn die letzten 15 Jahre seines Lebens in seiner Arbeit und der Interaktion mit seinen Mitmenschen empfindlich eingeschränkt hatte. (Ohnehin ist es unsereinem ja unbegreiflich, wie ein Gehörloser komponieren kann – wie ein Maler, der blind ist.) Also sägte man den Schädel unmittelbar nach seinem Ableben in neun (!) Teile, entnahm und untersuchte die Gehörknochen beider Ohren – leider ohne Ergebnis. Sie sind bis heute verschollen.
Doch auch im neuen Grab war Beethoven keine ewige Ruhe vergönnt. Schon weitere 25 Jahre später entschied die Stadt Wien, a) den Währinger Friedhof nicht mehr als solchen zu nutzen (er ist heute ein Park) und b) den vor den Toren der Stadt neu eröffneten Zentralfriedhof, den die Bevölkerung zunächst ablehnte, mit einigen »Promi-Gräbern« aufzuwerten. Also zog Beethoven (und auch Schubert) hierher um. Erneut ergriff man die Chance, weitere medizinische Untersuchungen anzustellen, wobei auffiel, dass zwei bei der ersten Umbettung entnommene Puzzlestücke des Schädels fehlten. Erst kürzlich tauchten sie in den USA wieder auf, bei Nachkommen des damaligen leitenden Pathologen, und wurden mittlerweile der Medizinischen Fakultät der Universität Wien übergeben, zwecks ausführlicher DNA-Analyse. Der fragmentierte Schädel, den Bruckner bei der zweiten Exhumierung 1888 in der Hand hielt, wurde also vermutlich von Klammern zusammengehalten.
Gestört haben wird es Bruckner nicht, er war vom Augenblick überwältigt. Ohnehin pflegte er einige sehr seltsame Marotten. Wie um sich von der auf Hochglanz polierten K.u.K. Kulturszene abzugrenzen, kleidete er sich stets in schlabberige Anzüge und trug die Haare praktisch-kurz. Aus panischer Angst vor Versuchung vermied er es, alleine mit einer Frau im Raum zu sein, machte später aber immer wieder erheblich jüngeren, ihm teils gar nicht persönlich bekannten Damen briefliche Heiratsanträge. Zwanghaft zählte er alles: Treppenstufen, Erbsen auf dem Teller, Takte in Partituren. Und fast obsessiv las er in den Zeitungen alles über Katastrophen, Unglücke, Hinrichtungen und Todesfälle. Einmal besichtigte er eine Burg und ließ sich für einige Zeit ins unterirdische Verließ einsperren, um die Qualen der Gefangenen nachempfinden zu können.
Vermutlich hätte Bruckner gut daran getan, seiner Beethoven-Begeisterung nicht nur auf derart morbide Weise Ausdruck zu verleihen, sondern auch im Fachgespräch mit prominenten Köpfen der damaligen Musikszene wie etwa dem Wiener Kritiker Eduard Hanslick. Der nämlich rechnete Bruckner dem verfeindeten Lager der »Neudeutschen« um Franz Liszt und dessen Schwiegersohn Richard Wagner zu. Im Gegensatz zu Hanslick und seinem Gesinnungsgenossen Johannes Brahms sahen sie Musik nicht als absolut für sich stehend an, sondern als Mittel zum Ausdruck außermusikalischer Inhalte. Symphonische Dichtung und Oper hießen ihre Vehikel, im Gegensatz zu »puren« Genres wie Symphonie und Streichquartett. Und gerade für die letztgenannten Gattungen galt eben Beethoven als ewiger Pate.
Tatsächlich hatte sich Bruckner selbst auf die Seite Wagners gestellt, den er auf fast lächerlich devote Weise verehrte. Ihm, »dem hochwohlgeborenen, unerreichbaren, weltberühmten und erhabenen Meister der Dicht- und Tonkunst« widmete er »in tiefster Ehrfurcht« seine dritte Symphonie. (Nach einem fürchterlichen gemeinsamen Saufgelage in Bayreuth musste Bruckner am nächsten Tag allerdings verkatert nachfragen, welche Symphonie Wagner doch gleich bevorzuge – die Zweite oder die Dritte?) Er übernahm Wagners fließende Harmonik und die vom Meister höchstselbst erfundene Wagner-Tuba. Und als Wagner starb, komponierte Bruckner in seine siebte Symphonie einen opulenten Trauermarsch für ihn hinein.
Hanslick überzog Bruckner daraufhin förmlich mit gehässigen Kritiken. »Unnatürlich, aufgeblasen, krankhaft, verderblich, zwischen bleierner Langeweile und fieberhafte Überreizung«, erschien ihm diese Siebte. Die Achte griff er noch schärfer an: »Sie verfällt alle Augenblicke in spezifisch Wagner’sche Wendungen und Effekte. Alles fließt unübersichtlich, ordnungslos, gewaltsam in eine grausame Länge zusammen. Es ist nicht unmöglich, dass diesem traumverwirrten Katzenjammerstil die Zukunft gehört – eine Zukunft, die wir darum nicht beneiden.« Bruckner fasste es später so zusammen: »Hanslick, früher mein größter Gönner und Freund, wurde mein ewiger Feind.«
Dabei übersah die Hanslick-Brahms-Fraktion allerdings geflissentlich zwei wesentliche Argumente. Zum einen hatte Beethoven ja nicht nur die aus sich selbst heraus als »absolute Musik« konzipierte fünfte Symphonie komponiert, sondern auch die »Pastorale« mit ihren Vogelstimmen und die Neunte auf Schillers »Ode an die Freude«. Er kann also genauso gut als Pate der Programmmusik gelten. Zum anderen schrieb Bruckner in seiner gesamten Karriere keine einzige Oper und keine symphonische Dichtung, sondern ausschließlich Symphonien, Kirchen- und Kammermusik. Vom Vorbild Beethoven übernahm er die klassische viersätzige Anlage seiner Werke und die Architektur der Sonatenhauptsatz-Form, die auf der Entwicklung kleinster musikalischer Motive beruht. Der einzige Unterschied zwischen den beiden: Bruckners Symphoniesätze beruhen meist auf drei statt nur ein oder zwei Motiven und sind teils doppelt so lang wie Beethovens. Zudem nutzt er ein größer dimensioniertes Orchester mit dreifach statt doppelt besetzten Holzbläsern plus Sonder-Instrumenten wie Tuba und Harfe, die zu Beethovens Zeiten noch gar nicht erfunden oder für den symphonischen Bereich nutzbar gemacht worden waren. Eine Art Beethoven in XXL, könnte man sagen. Jedenfalls nicht der Antipode, als den Hanslick ihn darstellte.
Dass Hanslick sich so verrennen konnte, ist sicher dem aufgeheizten Klima der damaligen Musikwelt geschuldet – und handfesten persönlichen Interessen wie etwa beim Streit über eine Berufung Bruckers an die Wiener Universität, die Hanslick als Mitglied der Findungskommission vergeblich zu verhindern suchte. Aus heutiger Perspektive blickt man auf solche Grabenkämpfe mit einem gewissen Amüsement; schließlich hat die Musikgeschichte dem grandiosen Symphoniker Bruckner am Ende ja Recht gegeben. Dennoch: Wäre Hanslick an jenem Tag ebenfalls auf dem Währinger Friedhof aufgekreuzt, als Bruckner Beethovens Schädel in die Hand nahm, so hätten sich die beiden Kontrahenten sicher auf die Verehrung ihres gemeinsamen Idols verständigen können. Und vielleicht auch sonst.