»Lebensklänge«

Von letzten Botschaften Von Sylvia Roth

Was bleibt am Ende eines Lebens? Was möchte man unbedingt noch sagen, bevor man geht? Was will man von sich selbst hinterlassen? Als Gustav Mahler sich 1909 an die Komposition seiner 9. Symphonie setzte, wusste er bereits, dass er wegen eines schweren Herzleidens nicht mehr lange leben würde. Und auch wenn die Behauptung, dass Mahler mit der Neunten seinen eigenen Tod »vorauskomponiert« habe, sicher übertrieben ist, spiegeln sich in diesem Werk doch sehr deutlich Themen wie Erinnerung, Abschied, Tod. Der Dirigent Willem Mengelberg, ein enger Freund Mahlers, formulierte programmatisch: »Mahlers Seele singt ihren Abschied! Er singt sein ganzes Inneres.«
Vor dem Tod noch einmal »sein Inneres singen« dürfen – diesem Anliegen widmet sich auch der schweizerische Verein »Hörschatz«: Er ermöglicht es schwer erkrankten, viel zu jung versterbenden Eltern, eine Sprachaufnahme für ihre minderjährigen Kinder zu machen, ihnen mündlich Botschaften zu schicken für die Zeit nach dem Tod. Gabriela Meissner ist Co-Gründerin des Vereins, der jährlich rund 30 Audiobiografien produziert – sie weiß, warum Menschen das Bedürfnis haben, etwas zu hinterlassen: »Ganz grundsätzlich tut es jedem Menschen gut, am Lebensende sein Leben noch mal zu überdenken – und nicht nur zu überdenken, sondern auch zu erzählen. Es gibt Forschungen dazu, dass das würdigende Erzählenkönnen des Lebens gut tut, weil man sieht: Hey, da ist ja ganz viel gewesen! Ich habe ja ein richtig reiches Leben gehabt! Ich habe viele erlebt, habe viele Rollen inne gehabt, habe diese und jene Hürden gemeistert.« Gerade auch sehr kranken Menschen könne dies eine gewisse Würde zurückgeben, so Meissner. »Und bei jung versterbenden Eltern kommt noch der Umstand hinzu, dass sie ihre Kinder nicht mehr beim Aufwachsen begleiten können. Das schmerzt natürlich am meisten. Das Gefühl: Ich kann nicht mehr da sein für meine Kinder. Ich kann nicht mehr sagen, ich liebe dich, oder komm, wir besprechen deine Sorgen. Durch die Hörschatz-Aufnahmen kann man bestimmte Wünsche mitgeben, Liebesbotschaften hinterlassen. Das hilft den Sterbenden sehr, weil sie wissen: Da bleibt etwas. Das Kind hat die Möglichkeit, all das, was ich ihm mitgeben wollte, später noch mal anzuhören.«

ERINNERUNGS-BILDER 

Gustav Mahler hatte 1907 seine fünfjährige Tochter Maria Anna verloren, hatte von seinem unheilbaren Herzklappenfehler erfahren, hatte aufgrund einer antisemitischen Pressekampagne seinen Posten als Direktor der Wiener Hofoper aufgeben müssen – Verluste und Abschiede umzingelten ihn geradezu. Seine 9. Symphonie brachte er in einer Art Schaffensrausch zu Papier, den gesamten Sommer 1909 schloss er sich in sein Komponierhäuschen in Toblach ein. Nach der Fertigstellung schrieb er an den Dirigenten Bruno Walter: »Es ist da etwas gesagt, was ich seit längster Zeit auf den Lippen habe«. Was genau er auf den Lippen hatte, wissen wir nicht, aber schon gleich im Eröffnungssatz wird offenbar, wie stark seine Symphonie von Abschieds-, Lebens- und Todes-Themen geprägt ist: Der Satz beginnt mit einem leisen Cello-Ton, dem die Harfe antwortet – im Autograph der Partitur steht über diesen Zeilen »Leb wohl«. Auch in der weiteren Entfaltung scheint die Musik ein Abschiednehmen voller traumartiger Reminiszenzen zu sein: Mahler zitiert etwa Beethovens Klaviersonate »Les Adieux«, außerdem taucht dreimal ein Thema aus dem Johann-Strauß-Walzer »Freuet euch des Lebens« auf, eine Erinnerung an Mahlers Studienzeit. Bei der auffälligsten dieser Zitatstellen notierte Mahler im Autograph: »O Jugendzeit! Entschwundene! O Liebe! Verwehte!« Alban Berg befand später: »Es ist der Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, in Frieden auf ihr zu leben, die Natur noch auszugenießen bis in ihre tiefsten Tiefen – bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam. Dieser ganze Satz ist auf die Todesahnung gestellt. Immer wieder meldet sie sich.«
Auch die Hörschatz-Teilnehmenden haben den Tod vor Augen, sie wissen, dass er nicht weit entfernt ist – nicht selten finden die letzten Aufnahmen sogar im Hospiz statt. Gabriela Meissner hat die Erfahrung gemacht, dass – obwohl jeder Mensch individuell ist und individuell von seinem Leben erzählt – es doch Ähnlichkeiten in dem gibt, was Eltern ihren Kindern noch sagen wollen: »Unbedingt mitgeben wollen die meisten Liebesbotschaften. Nochmal ausdrücken, was man an einem Kind schätzt, wie man es erlebt, wie viel einem die gemeinsame Zeit bedeutet. Viele wollen auch noch mal erzählen, wie sie sich an die Schwangerschaft erinnern, an die Geburt, an die erste Zeit mit dem Kind. Welche Streiche man gespielt hat, als man selbst Kind war, welche Jugendsünden man begangen hat. Manche wollen aber auch die Lieblingsgeschichte noch mal vorlesen oder das gemeinsame Gute-Nacht-Lied noch mal singen.« 
Für die betroffenen Familien ist das Angebot kostenfrei, der Verein organisiert sich über Spendengelder. Die Nachfrage ist groß, es gibt ähnliche Initiativen in anderen Ländern – inspiriert wurden Meissner und ihre Kollegin von einem deutschen Projekt, dem »Familienhörbuch«: »Es gab im Sommer 2019 einen Dokumentarfilm über diese Initiative in Deutschland. Und sowohl ich als auch meine Co-Gründerin Franziska von Grünigen fanden, ganz unabhängig voneinander: Wow, das ist so ein tolles Projekt – so etwas würden wir in der Schweiz auch gerne auf die Beine stellen!« Schon ein Jahre später war der Verein begründet, der Name »Hörschatz« gefunden, ebenso der Untertitel: »Was ich dir noch sagen will.« 

Doch warum wird das, was man noch sagen will, akustisch dokumentiert und nicht schriftlich – etwa in Form eines Briefes an die Kinder? »Es schwingt so vieles mit in der Stimme«, findet Gabriela Meissner, »Liebe, Trost, man kann damit so vieles transportieren. Und die Stimme ist so etwas Individuelles. Ich sage immer, die Stimme ist eigentlich die DNA der Seele – die hat niemand anderer.« Aufgrund dieser emotionalen Direktheit der Stimme müssen alle Hörschatz-Teilnehmenden im Vorfeld aber auch einen Erwachsenen benennen, der anwesend ist, wenn die Kinder später die Audiobiografie anhören: »Das ist ja dann nicht Benjamin Blümchen, sondern da muss man wirklich dabei sein und schauen: Was löst es im Kind aus? Und danach gemeinsam darüber sprechen. Das ist ganz wichtig. Denn natürlich weckt die Stimme der verstorbenen Mutter oder des verstorbenen Vaters auch Sehnsucht.« Außerdem achten die Interviewenden bereits während der Aufnahmen darauf, welche Wirkung eine Aussage haben kann, erzählt Meissner: »Manchmal muss man sich auch über Formulierungen Gedanken machen. Wie drückt man es aus, damit es keine Belastung wird für die Kinder? Wenn zum Beispiel jemand sagt: ›Ich bin immer bei dir‹, ist es unglaublich lieb gemeint. Aber es kann auch sehr belastend sein für die Kinder, kann das Gefühl auslösen, da hinten, im Nacken, ist immer die Mama oder der Papa. Deshalb ist es besser, den Kindern quasi etwas anzubieten: ›Wenn du mir nahe sein willst, dann komm doch zu meiner Lieblingsbank‹ oder Ähnliches.«

ABSCHIEDS-COURAGE 

Zu wissen, dass das Leben zu Ende geht, kann bei allem Schmerz auch mutig machen: Man hat nichts mehr zu verlieren, kann Dinge aussprechen, die man vorher vielleicht nicht zu sagen gewagt hätte. Mahlers 9. Symphonie hat nicht nur einen retrospektiven Charakter, sondern ist zugleich ein äußerst visionäres Werk, lässt Konventionen weit hinter sich. Allein schon die Großform ist in vieler Hinsicht ungewöhnlich: Zwar scheint die Viersätzigkeit die traditionelle Form der Symphonie aufzunehmen, doch ganz anders als gewohnt. Mahler setzt als Rahmen zwei langsame Sätze, am Beginn ein Andante comodo und am Ende ein Adagio, dazwischen stehen zwei parodierende, grotesk zugespitzte Innensätze – ein Ländler-Walzer und ein Rondo. Den Ländler überschrieb Mahler mit der Anweisung: »Etwas täppisch und sehr derb.« Gezielt unterlief er mit falschen Betonungen jegliche tänzerische Gemütlichkeit, verzerrte das musikalische Material, spitzte es fratzenhaft zu – der Satz wirkt stellenweise wie ein grotesker Totentanz. »Du musst ins Grab hinein!«, kommentierte Willem Mengelberg. »Indem Du lebst, vergehst Du. Grimmiger Humor.« 

Ein wenig Mut brauchen vielleicht auch die Teilnehmenden am Hörschatz-Projekt, wenn sie zum ersten Mal ins Mikrofon sprechen. »Wir beginnen die Aufnahmen meist mit eher einfachen, unbelasteten Themen«, berichtet Gabriela Meissner. »Wie war es bei der Großmutter? Was war dein Lieblingsessen? Und dann kann man immer weiter und tiefer eintauchen in die Lebensgeschichte. Nach und nach wächst das Vertrauen, und dieses Vertrauen muss sich entwickeln. Denn die Menschen erzählen ja unglaublich intime Dinge – das braucht schon ein bisschen Zeit. Und wir hören intensiv zu.« Beim Zuhören stabil zu bleiben, nicht mitgerissen zu werden vom hautnah erlebten Abschiedsschmerz, ist allerdings nicht immer leicht für die Audiobiografen. »Ich sage immer: Man entwickelt eine professionelle Nähe«, so Meissner. »Man ist ganz nah dabei, ermöglicht diesen Menschen traurig zu sein, zu weinen, alles zu erzählen, was ihnen auf der Seele liegt. Und auf der anderen Seite muss man ganz fest und stark bei sich selbst bleiben und sich auch ­immer klar machen: Es ist nicht meine Geschichte. Ich kann wieder aus dieser Situation rausgehen und zurück in mein Leben. So eine klar definierte Rolle zu haben hilft, mit der Situation umzugehen.« 
Für Meissner hat sich durch die Kontakte mit den Palliativ-Patienten auch der Blick auf das eigene Leben verändert: »Das Leben ist für mich viel weniger selbstverständlich geworden«, bekennt sie. »Es ist für mich nicht mehr selbstverständlich, dass ich schon über 50 Jahre alt geworden bin und dass ich meine Kinder aufwachsen sehen durfte. Ich spüre mehr Demut und Dankbarkeit. Und ich schaffe viel bewusster und gezielter Erinnerungen: Also, dass ich Zeit mit jemandem verbringe und denke, komm, lass uns was Erinnerungswürdiges machen. Einfach, weil ich glaube, dass es das ist, was uns trägt am Lebensende: In Erinnerungen eintauchen zu können – das ist schon sehr wertvoll.« 

ZUKUNFTS-IMPULSE 

Nach einem burlesken, scharf instrumentierten Rondo setzte Mahler ans Ende seiner Symphonie einen der berührendsten Abgesänge der Musikgeschichte: Mit dem 4. Satz schrieb er ein Adagio, das ganz zart mit den Streichern beginnt, ätherisch, überirdisch, entrückt. Willem Mengelberg versah diesen Satz mit den Worten: »Seine Seele singt – zum letzten Abschied: Leb wohl! Sein Leben, so voll und reich – ist jetzt bald beendigt!« Mahler fügte Zitate aus seinen »Kindertotenliedern« in den Satz ein; Passagen, die aber nicht vom Sterben, sondern von Transzendenz handeln. So spendete er in aller Schmerzlichkeit auch ein Stück Trost. Auf der letzten Seite der Partitur vermerkte er die Spielanweisung: »Langsam und sehr, sehr leise bis zum Schluss, mit inniger Empfindung« – und der allerletzte Vortragshinweis lautet: »ersterbend«.

Auch im Hörschatz wird stellenweise Musik verwendet – absichtlich eher sparsam dosiert. Es ist Musik, die die Palliativ-Patienten sich wünschen, erzählt Gabriela Meissner: »Jeder Mensch hat ja eigentlich einen Soundtrack seines Lebens, Musik, die einen in gewissen Lebensphasen begleitet. Oft ist die Jugendzeit sehr stark von Musik geprägt, es gibt aber auch Musik, die man mit einem bestimmten Menschen verbindet. Zum Beispiel das Kennenlernlied der Eltern, oder ein Lied, was man während der Schwangerschaft immer gehört hat – etwas, was man einfach mit einem bestimmten Gefühl oder einer bestimmten Zeit verbindet.« 

Den Kindern wird die fertige Audiobiografie schließlich in Form eines herzförmigen USB-Sticks übergeben – und sie gehen damit, auch je nach Lebensphase, ganz unterschiedlich um: »Mal wollen sie lieber Distanz haben und erst einmal nicht reinhören, dann wieder wollen sie die Möglichkeit ganz häufig nutzen«, so Meissners Erfahrung. Das Hörschatz-Team erhält viele Rückmeldungen von den Familien: »Zum Beispiel hat uns eine Familie, die den Hörschatz schon vor dem Tod der Mama bekommen hatte, erzählt: Sie haben am Abend jenes Tages, an dem sie verstorben ist, reingehört. Und haben das wie eine Art Magie empfunden. Es war für sie extrem tröstlich zu erfahren: Da lebt etwas weiter von der Mama. Sie ist jetzt nicht mehr da, aber ich kann sie noch hören.«

Als Mahlers Neunte im Juni 1912 in Wien uraufgeführt wurde, war der Komponist bereits seit einem Jahr tot. Das Publikum reagierte mit Befremden: Die Musik war ihrer Zeit weit voraus, verstörend innovativ in ihrer Chromatik, ihrer tonalen Unbekümmertheit, ihrer oft völligen Abkehr vom Melodischen. Mahlers Schüler aber erlebten die Symphonie genau deshalb als eine Ermutigung, neue Wege zu gehen – Alban Berg bezeichnete die Neunte als »das erste Werk der Neuen Musik«. Die von Todesthematik durchzogene Partitur erwies sich für die nachfolgende Generation also als eine Botschaft voller Lebenskraft, voller Visionen, voller Zukunft. Und so spiegeln auch die Hörschatz-Audiobiografien nicht nur den Abschied eines Sterbenden, sondern geben zugleich viel Lebensenergie weiter. Sie machen den Kindern Hoffnung für die Zukunft, spenden ihnen Kraft. Mit der Stimme der Eltern bleibt auch ein Stück Leben. 

Wer mehr über »Hörschatz« wissen möchte oder dem Verein spenden will, findet weitere Informationen unter: www.hoerschatz.ch